In der Ukraine ist der Leiter des Präsidentenbüros, Andrij Jermak, nach Durchsuchungen von Anti-Korruptionsermittlern in seiner Wohnung zurückgetreten. Jermak habe eine Rücktrittserklärung unterzeichnet, sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj in einer Videobotschaft. Der Staatschef dankte Jermak und kündigte einen Umbau des Präsidentenbüros an. «Ich möchte, dass es keine Gerüchte oder Spekulationen gibt», unterstrich der Staatschef. Am Samstag werde er Gespräche mit potenziellen Nachfolgern führen.
Bis zur Bekanntgabe des Rücktritts hatte Selenskyj zu den jüngsten Entwicklungen in dem Skandal geschwiegen, deshalb gab es den Freitag über Kritik an seinem Zögern. Das Land, das sich seit mehr als dreieinhalb Jahren gegen den russischen Angriffskrieg wehrt, wird seit Wochen von einem Schmiergeldskandal erschüttert, der bis in die Staatsführung reicht.
Jermak leitete das Präsidentenbüro seit dem Februar 2020 und galt bisher als der zweitmächtigste Mann in der Ukraine. Sein erzwungener Abgang wird von Beobachtern auch als harter Schlag für Selenskyj gewertet, dem ein langjähriger Vertrauter abhandengekommen ist. Auch die Loyalität der Parlamentsfraktion, auf der die Macht von Selenskyj in der parlamentarisch-präsidialen Republik beruht, könnte nun infrage gestellt sein.
Selenskyj warnte in seiner Videobotschaft vor Druck von außen und Streit innerhalb der Ukraine. «Wenn wir unsere Einheit verlieren, dann riskieren wir alles zu verlieren. Uns selbst, die Ukraine, unsere Zukunft», sagte er.
Das Nationale Antikorruptionsbüro (NABU) und die Spezialisierte Antikorruptionsstaatsanwaltschaft (SAP) hatten am frühen Morgen über eine Razzia in der Wohnung von Jermak informiert. Der 54-Jährige gilt als rechte Hand Selenskyjs und einflussreicher Strippenzieher. Er selbst bestätigte die Ermittlungen gegen ihn in seinem Telegramkanal.
NABU und SAP machten zunächst keine Angaben zum Anlass der Ermittlungen. «Details folgen später», hieß es in einer Mitteilung. Fotos auf dem Internetportal «Ukrajinska Prawda» zeigten, wie zehn Mitarbeiter von NABU und SAP ins kriegsbedingt schwer zugängliche Regierungsviertel gelangten.
Jermak war bisher die zentrale Figur bei den laufenden Verhandlungen mit den US-Amerikanern um ein Ende des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine gewesen. Er führte das ukrainische Verhandlungsteam an. Seine Ernennung als Delegationsleiter hatte in der vergangenen Woche Erstaunen bei politischen Beobachtern in Kiew ausgelöst, weil er in dem Korruptionsskandal wie Selenskyj in Erklärungsnot geraten war. Unklar ist, wer diese Rolle nun übernimmt.
Zuletzt war auch Ex-Verteidigungsminister Rustem Umjerow von Korruptionsfahndern vorgeladen worden. Der Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates bestreitet alle Vorwürfe. Auch der 43-Jährige gehört zu Kiews Hauptunterhändlern bei den Gesprächen über Trumps Friedensinitiative.
NABU und SAP hatten vor etwas mehr als zwei Wochen mitgeschnittene Gespräche zu Schmiergeldzahlungen im Energiesektor veröffentlicht. Es gab mehrere Festnahmen. Energieministerin Switlana Hryntschuk und Justizminister Herman Haluschtschenko wurden entlassen. Der Hauptverdächtige und Vertraute von Präsident Selenskyj, Tymur Minditsch, konnte aus dem Land fliehen. Er ist zur Fahndung ausgeschrieben. Bereits damals wiesen die Korruptionsfahnder auf Bestechung auch im Rüstungsbereich hin.
Im Juli hatte Präsident Selenskyj noch versucht, NABU und SAP unter seine Kontrolle zu bringen. Damals wurden bereits Vorwürfe gegen Jermak laut, dass die eilig verabschiedete Gesetzesänderung auf seine Initiative hin im Parlament eingebracht worden sei. Ziel sei gewesen, die sich anbahnenden Verfahren gegen Minditsch und den Selenskyj nahestehenden Ex-Vizeregierungschef Olexij Tschernyschow zu verhindern, berichteten Medien. Nach Straßenprotesten und einer Intervention der Europäischen Union musste Selenskyj das Gesetz wieder ändern und den vorherigen Zustand wiederherstellen.
Der oppositionelle Abgeordnete Olexij Hontscharenko meinte, dass die Ermittlungen auch eine Antwort darauf sein könnten, dass Jermak angeordnet haben soll, die Ermittler von NABU und SAP zu überwachen. Er vermute auch Amtsmissbrauch, Einflussnahme und politische Verfolgung. «Da helfen auch alle Anwälte des Landes nichts», schrieb Hontscharenko bei Telegram.
Die Ermittlungen rund um den Korruptionsskandal könnten auch Auswirkungen auf die Gespräche der Ukraine mit den USA haben. Medienberichten zufolge hatte Präsident Selenskyj Jermak extra zum Verhandlungsführer bei einem Treffen in Genf am Sonntag ernannt, um ihn aus der Schusslinie zu nehmen. Einige Kommentatoren hatten dagegen mit seiner Absetzung gerechnet.
Jermak lehnte in einem Interview die von Russland geforderten Gebietsabtretungen im Donbass für einen Waffenstillstand ab. «Solange Selenskyj Präsident ist, sollte niemand damit rechnen, dass wir Gebiete aufgeben. Er wird keine Gebiete abtreten», sagte er «The Atlantic».
Tags zuvor hatte Jermak neue Gespräche mit der US-amerikanischen Seite für das Ende der Woche angekündigt. Erwartet wird die Ankunft einer US-Delegation unter Leitung des Staatssekretärs Daniel Driscoll.
Russland besteht darauf, dass die ukrainischen Truppen sich für einen Waffenstillstand aus den Gebieten Luhansk und Donezk komplett zurückziehen. Kremlsprecher Peskow sagte mit Blick auf die Razzia bei Jermak, dass sich der Korruptionsskandal in der Ukraine ausweite mit negativen Folgen für das politische System in Kiew.
Die USA versuchen seit dem Amtsantritt von Präsident Donald Trump, ein Ende des seit Februar 2022 währenden russischen Krieges gegen die Ukraine zu erreichen. Vergangene Woche hatte Washington einen aus 28 Punkten bestehenden Friedensplan vorgelegt und Kiew zur Annahme gedrängt. Die von Jermak geleitete ukrainische Verhandlungsdelegation hatte am vergangenen Sonntag mit Unterstützung europäischer Verbündeter Änderungen am Plan vorgenommen und diese den USA vorgelegt.
Trotz einer Reihe seit dem westlichen Umsturz von 2014 neu geschaffener Behörden zur Schmiergeldbekämpfung gilt die Ukraine weiter als einer der korruptesten Staaten Europas. Als EU-Beitrittskandidat hat sich das Land zu Reformen verpflichtet.
© dpa-infocom, dpa:251128-930-352154/6