Leserbriefe

Unangebrachte Relativierung

Manuel Werner, Nürtingen. Zum Leserbrief „Als Zeitzeugen alles nicht gewusst“ vom 25. April. Viel wichtiger ist aber doch genau das Gegenteil: zu erkennen, was Zeitzeugen alles gewusst haben, auch und gerade hier! Das ist sicherlich der erste und wesentlich wichtigere Schritt. Wer diesen Schritt beginnt, dessen erste, dessen normale Reaktion ist in aller Regel Bestürzung.

Dies alles für Nürtingen aufzuführen, genau dies würde „den Rahmen eines Leserbriefes“, ja einer ganzen Zeitungsausgabe ungleich mehr sprengen, ist jedoch für wirklich Interessierte mühelos zugänglich. Dass man als Erstes genau umgekehrt denkt und publiziert, finde ich seltsam.

Leider habe ich solche Äußerungen, man habe das alles ja nicht gewusst, bei den Altersgruppen der Zeitzeugen, die nicht den Opfergruppen zugehörten, gerade in Nürtingen ungleich öfter gehört als anderswo. Ich empfinde sie mittlerweile als entlarvend, weiß ich doch, was allein mein Vater, der in der NS-Zeit noch wesentlich jünger war als der zitierte Jahrgang 1928, alles gesehen hat, sehen musste, mitbekommen hat, noch mehr später an Kenntnis hierzu gewann. So weiß ich, dass ein kleines Mädchen im Vorschulalter, das einem in ihrem Wohnort bereits internierten Sinti-Mädchen eine ihrer Puppen geschenkt hatte, nach deren „Deportation“ gefragt haben soll, „wird jetzt meine Puppe auch vergast?“

Noch seltsamer finde ich die Argumentation, dass ja jeder, der nicht den tatsächlichen NS-Opfergruppen angehört habe, ab 1945 vom NS-Regime hätte verfolgt werden können, wenn es kein „Ende des Nationalsozialismus“ gegeben hätte. Genauer: wenn NS-Deutschland nicht von außen besiegt worden wäre.

Ich empfinde diese Argumentation als starke und unangebrachte Relativierung des den tatsächlichen Opfern zugefügten Schicksals, somit eher als ein spitzfindiges Ablenkungsmanöver.

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