Leserbriefe

Menschen, die Vision in die Stadt tragen

Max G. Bailly, Unterensingen, Freier Künstler. Zu den Artikeln „Bedenkzeit für Kunst- und Kulturzentrum“, „Im Nürtinger Gemeinderat rumort es gewaltig“ und zum Kommentar „Schaukämpfe“ vom 11. Dezember. Danke für die klare Berichterstattung, es ist wichtig zu wissen, in welcher Weise um das Wohl der Bürger und die Zukunft der Stadt „gerungen“ wird. Wahlkampf auf Kosten einer Vision? Persönliche Profilierung (wofür auch immer . . .) statt weises Abwägen in Achtung voreinander, vor allem in Achtung vor der Aufgabe, das Beste für die Kommune zu tun?

Ich lebe in Unterensingen, mit Nürtingen fühle ich mich eng verbunden, weil ich vor 36 Jahren aktiv Anteil hatte an der Realisierung einer Vision: der Vision K. H. Türks, in Nürtingen mit der Freien Kunsthochschule ein geistiges, künstlerisches, lebensnahes Zentrum zu schaffen, in dem junge und ältere Menschen auf den Beginn eines Lebensweges geführt und auf ihrer Suche begleitet werden konnten. Über die elementaren Kräfte, die in künstlerischen Prozessen erfahren werden können, lernten diese Menschen ein erweitertes Weltbild kennen. Es wurden nicht Künstler „produziert“, sondern Menschen gebildet. Einige schafften sogar den mühevollen Weg, daraus einen Beruf zu machen.

Und mit der Gründung der Fachhochschule für Kunsttherapie gab Türk Nürtingen eine in Deutschland einmalige neue Institution, jährlich werden 50 Studierende ausgebildet, die in ganz Deutschland ihr Berufsfeld finden werden. Manche der Studierenden, der Absolventen beider Schulen (die ja meist aus der weiten Umgebung kamen) blieben in Nürtingen, haben Familien gegründet, haben einen Beruf gefunden, sind selbständig geworden. Und: sie haben den Geist und die Kreativität der beiden Schulen in die Stadt getragen, haben mitgewirkt an der Entwicklung, nicht nur der kulturellen, dieser Stadt (die Seegrasspinnerei ist nur ein Beispiel). Als ich 1976 nach Nürtingen zog, war die Stadt grau vom Staub des Zementwerkes. Die Vision K. H. Türks hat die Stadt farbiger gemacht. Weiß Nürtingen wirklich um den Wert dieser beiden Schulen?

Heute gibt es wieder Menschen, die uneigennützig eine Vision in die Stadt tragen. Menschen also, die kein in sich selber rotierendes, sich selbst bespiegelndes Kunstlabor wollen, sondern ein für alle Bürger offenes und von ihnen auch mit zu belebendes Zentrum am Fluss. Ich wünsche den Nürtingern einen weisen, vorausdenkenden Gemeinderat (nicht nur vorausdenkend auf die kommende Kommunalwahl . . .). Interne Querelen oder die Interessen einzelner Gruppierungen, wie von Frau Lieb geschildert, verhindern zukunftsweisende Ideen. Man kann totrechnen oder niederargumentieren. Man kann aber auch sachlich abwägen, Zeit geben für Entwicklung, einander zuhören. Vielleicht wird dann aus einer Idee, aus einer Vision, für Nürtingen ein neuer Lebensraum wachsen, unten am Fluss.

Zur Startseite