Leserbriefe

Wahrnehmung ist nicht repräsentativ

Jürgen Pilsl, Großbettlingen. Zum Artikel „Ein Spaziergang mit Beigeschmack“ vom 19. Januar.

Es ehrt den Redakteur, dass er am Montag- abend trotz der Kälte beim „Spaziergang“ in Nürtingen vor Ort war, was für einen Journalisten heutzutage beileibe keine Selbstverständlichkeit ist. Was mich bestürzt ist, dass er dies nicht genutzt hat, um sich dort ein unvoreingenommenes Bild zu machen. Sondern dass er in seinem Beitrag seine Wahrnehmung, die zwar authentisch sein mag, aber keinesfalls (!) repräsentativ für die Abläufe und Teilnehmer des Spaziergangs ist, mit den verbreiteten Vorurteilen (Impfgegner, Querdenker) mischt – und schließlich sogar mit Begrifflichkeiten beziehungsweise Unterstellungen („Legida ruft auf“, „sich via Telegram verabreden“) vermengt. „Framing“ nennt man das wohl: das verbale Verknüpfen von Themen mit der Absicht die Abläufe und Akteure in ein ganz bestimmtes Licht zu rücken.

Der Artikel erweckt beim Leser einen Eindruck vom Montagsspaziergang in Nürtingen, der die diesbezüglichen Vorurteile und Ängste braver Bürger nährt. Und macht aus seiner finalen Botschaft, nämlich solche „Versammlungen“ doch künftig besser gleich zu verbieten, keinerlei Hehl. Was für eine vertane Chance! Eine faire Berichterstattung hätte den Riss, der aktuell mitten durch unsere Gesellschaft geht, gegebenenfalls etwas zu schließen vermocht. „Ganz normale“ Bürger, die nämlich in überwältigender Mehrzahl die Teilnehmer dieses Spaziergangs waren, hätten angemessen zu Wort kommen müssen. Diese Chance wurde meines Erachtens dem geopfert, was man aktuell „Haltungs-Journalismus“ nennt. Ein paradoxer Begriff, der letztlich nicht anderes beschreibt als das Einflechten der eigenen und gefestigten Meinung in Form einer vermeintlich moralisch gerechtfertigten Botschaft in einen Beitrag, der in der Folge mit Berichterstattung nichts mehr zu tun hat.

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