Leserbriefe

Die unverbogene Zunge

Reinmar Wipper, Nürtingen. Zum Leserbrief „Die Unterschiede“ vom 19. September und zum Artikel „Noch mehr einmischen“ vom 16. August. Es gibt Tage, da schwelge ich im Glück. Da erklären mir die Granden des Gemeinderats die Welt. Stadtrat Nauendorf macht sich sogar die Mühe, sich „kürzer zu fassen, damit es Reinmar Wipper auch versteht“. Mein schlecht gelüftetes Hirn braucht diese Sternstunden der Heuristik. Und so beginne ich zu erkennen: Wer große Schulden hat, muss reich sein. So wie Metzingen. Oder wie der Gewerbezweckverband. Der hat in der Bachhalde rund 6 Millionen Verbindlichkeiten und 2007 immerhin etwa 20 000 eingenommen. Oder, nunmehr aus dem Zitatenschatz der CDU: Die meisten Metzinger sind für die Lagerhalle von Boss, die sind aber nicht zur Wahl gegangen. Heureka, ruft da der Erleuchtete, ich hab’s: Wir sehen den Mond nur deshalb nicht viereckig, weil wir runde Augen haben.

Vom Rathaus hört man immer wieder: 400 neue Arbeitsplätze von Boss, 40 Lastwagen pro Tag, und eine halbe Million Gewerbesteuer pro Jahr. Drei unbewiesene Glaubenssätze. Mehr bieten sie nicht. Verstärkung bekommen sie von den Bürgermentoren. Die wollen sich „noch mehr einmischen“. Sie verstehen sich „als eine Art Frühwarnsystem, das anzeigt, wo gerade weitreichende Entscheidungen anstehen und Beteiligungsmöglichkeiten diskutiert werden sollen“. Das soll „ausufernden Protesten schon im Ansatz den Nährboden entziehen“.

Und der kleine Mann lernt schon wieder: Da formt man nebenamtliche Bürgerflüsterer, Spin-Doctors, geklont nach Master’s Voice, mit voller Breitseite von Big Brother. Diese Hörer des wachsenden Grases erforschen die Meinungen der Bürger und helfen irregeleiteten Bürgern zur Rückgewinnung ihrer Urteilskraft. Zu echten Engagierten geläutert, lieben sie wieder ihre Stadtverwaltung und schaden der Stadt fürderhin nicht mehr. Sie strampeln stattdessen im Kielwasser des Neckardampfers Nürtingen. „Schanghaien“ nennen Seeleute diese Strafmaßnahme, am Seil über Bord, bis die Vernunft wieder Einkehr hält.

Da höre ich doch lieber auf die sanften Kurskorrekturen von Fahrensmann Nauendorf, der seine Äquatortaufe hinter sich hat. Von einem, der in so manchem Hafen schon Landgang hatte, kann man viel lernen. Und sei es, dass es mal wieder die Nachtigall war, wenn man auf die Lerche getippt hat. Vollkommen aber wird mein Glück, wenn mir beim Blick in meinen Spiegel nicht nur Glatze und dicke Backen entgegen sehen, sondern eine seit Jahrzehnten unverbogene Zunge.

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