Leserbriefe

Die Jugend und der Alkohol

Reinmar Wipper, Nürtingen. Zum Artikel „Ein Allheilmittel gibt es nicht“ vom 2. Juli. Ein merkwürdiger Kontrast: Berechtigte Klagen über Vandalismus betrunkener Jugendlicher im Schulhof. Zwei Zeitungsseiten weiter leuchtende Gesichter von Verwaltungsspitze, Verlagsspitze und Spitzenbrauern mit Spitzenbieren im Maßkrug. Nürtingen, die Stadt geselligen Trinkens, vom Maientag bis zum Weihnachtsmarkt. Auch ich war dabei, am Montag, mit einer Freundin, zum Biertrinken und Schwätzen.

Aber da ist diese virtuelle Wand, zwischen mir und der etablierten Gesellschaft hüben, und drüben den jugendlichen Liebhabern des Alkohols. Die jungen Leute haben keinen Bock, an den fürs Trinken der Alten vorgesehenen Orten gesittet zusammenzukommen. Sie wollen ins Freie, Ungebundenheit spüren. So waren wir auch früher. Bahnhof, Haltestellen, Mäuerchen, Verkehrsinseln, Straßenlaternen, wechselnde Berührungen mit Freunden und Freundinnen, null Plan, alles offen, vieles drin, immer im Stehen und in Bewegung, wechselnde Schauplätze der aktuellen Frage „Was geht?“.

Ich kann meine Rente versaufen, wann und wo ich will. Falls ich will. Zu Hause, unterwegs, tagsüber, abends, nachts, im Gasthaus, auf Vernissagen, Geburtstagen und Beerdigungen, vor oder nach Sitzungen, falls jemand einen Grund zum Anstoßen auslobt.

Anstoß an der Allgegenwart des Alkohols nimmt keiner. Nur bei Jugendlichen. Weil deren Spaßbedarf manchmal die Grenzen verletzt, bis hin bis zu strafbaren Handlungen. Es sind die Grenzen derer, die ihr Saufen behütet gestalten können, denen Orte und Umstände zur Verfügung stehen, an denen sie sanktioniertes Trinken kaufen.

Viele Ordnungsmaßnahmen sind Kammerjägerei gegen Ungeziefer. Das ist pervers. Vielleicht lindern die Nachtwanderer. Aber den Drang ins Unbekümmerte inmitten einer geputzten Stadt können auch sie nicht abstellen. Also volle Kanne Ratlosigkeit, bis ins Rathaus. Und nun entdeckt man die Eltern als Zuständige oder Schuldige. Das hilft keinen Schritt weiter. Jugend säuft so wie die Alten, nicht mehr und nicht weniger. Warum sollen’s die Eltern richten? Den Alten helfen sie auch nicht mehr aus dem Braukessel.

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