Weihnachtsgrüße

Festmahl auf acht Quadratmetern mit Mini-Baum „Diego“

Anna und Irina Lutz sind mit ihrem Kastenwagen Holly seit Februar unterwegs. Nach Kanada und den USA sind die beiden und ihr Camper inzwischen in Mexiko.

Toronto
Holly im Joshua Tree National Park
Baja California, Mexiko
Puebla, Méxiko

Wir sind Anna und Irina und feiern in diesem Jahr Weihnachten mal so ganz anders. Tauschen Familie, Weihnachtsbaum, Kälte und leckeres Essen gegen 30 Grad, Sonne, Palmen und Meerblick. Die Weihnachtsdeko baumelt fröhlich von den Schränken in unserm Camper. Ein Mini-Weihnachtsbaum namens „Diego“ wartet schon darauf, geschmückt zu werden. Und an Weihnachten erwartet uns ein improvisiertes Festmahl auf acht Quadratmeter. Ob es klassisch „schwäbisch“ oder doch mexikanisch wird? Wir werden sehen.

Aber Moment mal. Mit dem Camper in Mexiko? Ja, genau. Sie heißt „Holly“, ist ein ausgebauter Kastenwagen und trägt Esslinger Kennzeichen. Wie sie nach México kommt? Dafür müssen wir ein wenig zurückspulen. Schon vor der Pandemie war es unser Traum, einmal auf eine längere Reise zu gehen. Zeit haben, um Länder, Kulturen und andere Lebensweisen kennenzulernen. Sich treiben lassen, das Hamsterrad verlassen und frei von Verpflichtungen nach unserem ganz eigenen Rhythmus und Bauchgefühl leben. Damals sollte es noch mit dem Rucksack an viele Orte der Erde gehen. Die Kündigung war eingereicht, der erste Flug gebucht, die Wohnung fast vermietet. Dann: Corona und alles zurück auf null. Ohne Idee, ob und wann es weitergehen könnte. Der Traum war jedoch zu tief in unseren Herzen, als dass wir alles verwerfen konnten.

Alternativen mussten also her. Sich unabhängiger machen von Flügen und Unterkünften – so war die Idee. Also haben wir uns einen leeren Kastenwagen gekauft, um ihn zu einem Camper auszubauen. Etwas mehr als ein Jahr und tausende Youtube-Videos später war die letzte Schraube angezogen und das letzte Teilchen festgeklebt. „Holly“ war fertig gebaut: mit Bett, Küche, Sitzecke, einer Toilette und sogar eine Dusche haben wir in diesen acht Quadratmetern untergebracht.

Wir hatten tolle Helfer – danke von Herzen –, sind aber auch ein wenig stolz, dass wir 80 Prozent des Ausbaus komplett alleine gemacht haben.

Fehlte nur noch ein Startdatum und ein Ziel. Lange haben wir an Europa festgehalten. Als Kanada die Grenzen wieder öffnete, war schnell klar: Das soll ein größeres Abenteuer werden. Gesagt, getan!

Ende Februar ging’s für Holly auf die Reise über den Großen Teich. Von Hamburg nach Halifax in Nova Scotia. Für uns ging’s im Flieger hinterher.

Über zwei Wochen mussten wir in Kanada bangen. Das Ankunftsdatum des Frachtschiffs hat sich immer wieder verschoben. Dann aber endlich war es so weit und wir fuhren die ersten Kilometer auf kanadischem Boden und konnten lange nicht glauben, dass das nun Wirklichkeit ist. Seitdem sind über neun Monate vergangen und wir sind mit Holly mehr als 30 000 Kilometern quer durch Kanada, den Südwesten der USA und große Teile Mexikos gefahren.

Dreieinhalb Monate ging es für uns durch Kanada. Einmal komplett von der Ost- bis zur Westküste, bis nach Vancouver Island. Nahezu alleine an den Niagara-Fällen zu stehen war sehr besonders. Eisschollen auf dem Sankt-Lorenz-Strom in Québec treiben zu sehen auch. Toronto haben wir geliebt. Abenteuerlich war ein angekündigter Blizzard auf der langen Überfahrt durch die Prärien Kanadas bis in den Westen. Zwölf Stunden ohne Pause mit durchgedrücktem Gaspedal haben uns gerettet.

Auf dem Icefields Parkway über 250 Kilometer durch die kanadischen Rockies zu fahren, hat uns permanent sprachlos und demütig gemacht. Auf Vancouver Island sind wir durch uralte Regenwälder gewandert.

Die größte Überraschung gab’s im Süden von Alberta. Mehrere Tage verbringen wir in den Badlands, einer wüstenartigen Landschaft. Wer hätte das vermutet?

Das größte Highlight Kanadas aber waren die Menschen. Wir haben sie von Ost bis

West ins Herz geschlossen und als ungewöhnlich offen, neugierig, positiv und herzlich erlebt.

Anfang Juni ging es über die Grenze in die USA. Und ziemlich direkt weiter zum Nordrand des Grand Canyon. Dort wartete ein lang gehegter Traum auf uns. 2015 standen wir fasziniert am Südrand und wollten unbedingt wissen, wie es „da unten“ aussieht. Ohne Übernachtung ist die Wanderung aber kaum möglich. Die Plätze in der Phantom Ranch werden per Teilnahme an einer Lotterie 14 Monate im Voraus verlost. Wir hatten Glück! Zwei Tage lang haben wir den Grand Canyon einmal komplett von Nord nach Süd, also „Rim-to-Rim“ durchwandert: 32 Kilometer und je 1500 Höhenmeter durch Millionen Jahre alte Erdgeschichte. Anstrengend, aber mit Freudentränen belohnt und für immer in unserer Erinnerung.

Anschließend sind wir drei Monate durch den Südwesten gereist. Weite, Berge, Wüste, Canyons, Flüsse, Sandsteinformationen in leuchtendem Rot, Orange, Violett. Eine unfassbare Natur, die uns permanent beeindruckt hat. Und dazu der Pazifik, Metropolen, spanische Missionskirchen, mexikanische Einflüsse. Wir können uns auf kein Highlight einigen – ausschließlich Highlights und wer noch nie hier war, dem können wir dieses Stückchen Erde nur ans Herz legen.

Sicher, man kann sich über vieles in diesem Land streiten. Für uns ist der Südwesten dennoch ein Ort, von dem wir hoffnungslos für immer angezogen werden.

Und dann? Auf nach Mexiko! Nach Mexiko? Seid ihr verrückt? Viele hatten uns gewarnt, es wäre nicht sicher genug. Als wir in den USA waren, gab es zusätzlich Anschläge der Drogenkartelle in einigen Grenzstädten. Das hat auch uns verunsichert. Wir haben uns dennoch dafür entschieden. Und wir sind jeden Tag dafür. In den nun über drei Monaten hier in Mexiko bietet sich uns ein ganz anderes Bild. Wir erleben jeden Tag wundervolle Dinge und treffen auf unfassbar herzliche Menschen.

Mexiko ist so viel mehr als die negativen Schlagzeilen, die uns zu Hause so erreichen. Mexiko ist bunt. Jeder Ort, jede Stadt ist geschmückt mit bunten Fähnchen über den Straßen. Die Häuser erstrahlen in bunten Farben – sichtbar gemachte Lebensfreude. Geschichte, gesellschaftliche Probleme, Freude, politische Einstellungen – alles, wirklich alles kann man von den Wänden ablesen. Die Murales, Wandmalereien, sind allgegenwärtig und wunderschön. Beim Reisen hat man das Gefühl, das ganze Land würde zum UNSECO-Weltkulturerbe gehören, so viele Orte und Stätten sind Teil davon. Uralte Kakteenlandschaften, wunderschöne Kolonialstädte, unberührte Natur, wunderschöne Strände, Urwaldgebiete, beeindruckende Ruinen und Geschichte, indigenes Leben und ESSEN: Das darf man ruhig groß schreiben. Selbst das wird von der UNESCO geschützt. Es wäre, als könnte man im Essen all das schmecken, was México ist. Ein beeindruckendes, völlig unterschätztes Land, das wir vermissen, obwohl wir noch dort sind.

Wie es weitergeht? Das erklärte Ziel ist Panama. Im Mai wollen wir dort ankommen. Wir haben aber gelernt, dass man Pläne besser in Sand schreibt, um sie verändern zu können. Also mal sehen, wo unsere Reise auf diesem Kontinent tatsächlich enden wird. Und dann freuen wir uns erst einmal, unsere Familie und Freunde wieder in den Arm nehmen zu können, bevor es im Juli und August mit Holly zum „Reise-finale“ zu Annas Familie nach Süditalien geht. Eines ist aber heute schon klar: Diese Reise gehört zu den besten Entscheidungen unseres Lebens.

Noch selten haben wir so intensiv gelebt: extrem gefroren, extrem geschwitzt, jede Menge Angst gehabt, jede Menge Mut aufgebracht, vor Freude durch die Gegend gesprungen, vor Verzweiflung Tränen geheult, immer Lösungen gefunden und Erlebnisse für eine Ewigkeit gesammelt. Die größte Erkenntnis? Es gibt immer einen Weg und wenn Du einen Traum hast, verwirkliche ihn!

Wir versuchen nun trotz des Klimas in Weihnachtsstimmung zu kommen. Es gibt selbst gebackenen Christstollen und natürlich Glühwein. In diesem Sinne wünschen wir allen zu Hause „feliz navidad“ – wundervolle Weihnachten.

Irina und Anna Lutz

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