NÜRTINGEN. Das Gefühl trieb sie an, etwas tun zu müssen: für Menschlichkeit, Toleranz und Demokratie. Gegen alle, die diese Werte abschaffen wollen. Und gegen diejenigen, die Hass verbreiten. Ein Mittel dagegen: Sich zu erinnern, was der Verlust dieser Werte in der Zeit des Nationalsozialismus an unermesslichem Leid für Millionen von Menschen gebracht hat.
Die „Gedenkinitiative für die Opfer und Leidtragenden des Nationalsozialismus in Nürtingen und Umgebung“ hat nun in der Reihe „Forum 55+“ im Roßdorfer Stephanushaus ihr Buch vorgestellt, das auch durch Fördermittel der Landeszentrale für politische Bildung in Stuttgart ermöglicht wurde. Auf 70 Seiten werden Leben und Leiden von NS-Verfolgten aus unserem Raum vorgestellt. „Erinnern heißt verändern“, so der Titel des Buches, und deshalb hoffen die Autoren, dass ihre Leserinnen und Leser erkennen, wozu Hass und Ausgrenzung führen kann.
Der Roßdorfer Stefan Kneser hatte seit vielen Jahren die Arbeit der Gedenkinitiative mitorganisiert. Er stellte zu Beginn der Veranstaltung das Buch vor und erläuterte seine Entstehungsgeschichte. Elf Autorinnen und Autoren haben in teils mühevoller Kleinarbeit die Lebensläufe der NS-Opfer erforscht und aufgeschrieben. So ist ein auch optisch sehr ansprechendes Buch entstanden, das über den lokalen Bezug hinaus zeigt, welche Bevölkerungsgruppen im Dritten Reich verfolgt wurden: Menschen, die nicht der sogenannten arischen Rasse entsprachen (Juden, Roma und Sinti), die psychisch erkrankt oder geistig behindert waren oder die als politische Gegner eingestuft wurden.
Hinzu kommen diejenigen, die durch Zwangsarbeit misshandelt wurden. Manuel Werner stellte in seinem Beitrag Anna Frank vor, die, weil sie Jüdin war, nicht im Krankenhaus behandelt wurde und daher an ihrer Verletzung starb. Und Anton Köhler, ein Sintojunge, dessen Schwester Johanna den berührenden Satz sprach: „Warum müssen wir sterben, wir sind doch noch so jung.“ Anne Schaude berichtete über die psychisch kranken oder behinderten Menschen, die in Grafeneck und anderswo vergast wurden, weil sie im Sinne des Nationalsozialismus „lebensunwert“ waren.
Annette Planck erzählte Schicksale aus ihrer Familie: ihre Großmutter Paula Planck, die 1919 als erste Frau in den Nürtinger Gemeinderat gewählt wurde, sowie ihr Vater, Ernst Planck, wurden aus politischen Gründen zeitweise inhaftiert und in Konzentrationslager verbracht, überlebten aber das Dritte Reich. Stefan Kneser informierte über die Leiden der Zwangsarbeiter Anatoli Grischtschuk und Genowefa Beck.
In Vertretung von Monika Petsch hatte Dieter Oehler die zahlreichen Zuhörerinnen und Zuhörer begrüßt und dankte ihnen in seinem Schlusswort, dass sie „der harten Kost“ so aufmerksam gefolgt waren. Und eine Zuhörerin: „Ich bin zutiefst erschüttert.“ Das Buch ist kostenlos erhältlich bei Mitgliedern der Gedenkinitiative Nürtingen.