NÜRTINGEN. Dieses Jahr war das Hölderlingymnasium an der Feier zum Volkstrauertag in der Nürtinger Kreuzkirche maßgeblich beteiligt. Die Rede hielt Schulleiterin Beate Selb. Sie zog 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges Verbindungen zwischen den Konflikten und Kriegen der Gegenwart, vor allem in Israel und in der Ukraine, und dem Beginn des Ersten sowie dem Ende des Zweiten Weltkrieges.
Zunächst widmete sie sich in ihrer Ansprache dem Gedicht „Menschheit“ von Georg Trakl, vorgetragen von Elena Fink und Philipp Ladewig. Es habe schon 1912 – bezeichnenderweise vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges – eine „universale und visionäre Perspektive“ entfaltet mit eindrucksvollen Formulierungen wie „Feuerschlünden“ als Sinnbild für drohende Zerstörung und Krieg. „Der Schatten Evas, biblisches Sinnbild der Versuchung“, so die Schulleiterin, „wirft sich in der verantwortungslosen Vernichtung des Lebens durch Jagd und in blutiger Korruption mit ‚rotem Geld‘ über die Menschheit“. Die Menschen warten aus Sicht Trakls noch immer auf Erlösung. Das klaffende „Wundenmal“ ist Ausdruck dafür, dass Gewalt weiterhin dominiert.
Als weitere „Brücke“ zwischen den großen Kriegen des 20. Jahrhunderts und den heutigen Katastrophen sieht Selb das Gedicht „Von guten Mächten wunderbar geborgen“, auf das sie im weiteren Teil ihrer Rede einging. Verfasst hat es der damals internierte Theologe und NS-Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer im Dezember 1944, also kurz vor Kriegsende. Das Hitler-Regime, so Selb, begegnet als „böse Gegenmacht“ und ist im Gedicht noch präsent, doch sind nach Bonhoeffer „die guten Mächte“ – das heißt Gott – machtvoller als alle Diktatoren. Die Schulleiterin ergänzt: „Die Sicherheit eines Vertrauens, aus dem heraus sich Dietrich Bonhoeffer als behütet und getröstet empfindet, entnimmt er aber der Gegenwart der ‚guten Mächte‘, die diesem Gedicht seinen Namen gegeben haben.“ In der positiven Betonung des diesseitigen Lebens sieht Selb trotz aller Unterschiede Parallelen zwischen dem Widerstandskämpfer und Trakl.
Zahlreiche Komponisten ließen sich von den eindrucksvollen Versen Bonhoeffers inspirieren. Das HöGy-Vokalensemble unter der Regie von Tobias Flick trug die Version von Siegfried Fietz überzeugend und in feierlicher Atmosphäre vor und rundete die literarischen Ausführungen musikalisch ab.
Am Ende fasste Schulleiterin Selb die verschiedenen Perspektiven, die sie anlässlich des Volkstrauertages hervorgehoben hatte, in einem Fazit zusammen: „Die Gegenwart mag die Menschen zu Recht ängstigen und solche Angst ist real. Doch zuletzt wird unsere Angst durch Gott überwunden.“