Leserbriefe

Weit weg von der Klinikrealität

Dr. Michael Buchmann, Beuren-Balzholz. Zum Artikel „Lobby für die seelisch Erkrankten“ vom 13. März. Wenn Gerth Döring konstatiert, psychisch kranke Menschen hätten keine Lobby, so schlägt er damit allen ins Gesicht, die seit Jahren die Versorgung psychisch Kranker im Landkreis Esslingen gewährleisten: den niedergelassenen Nervenärzten, Psychotherapeuten, sozialpsychiatrischen Diensten, Werk-, Wohn- und Tagesstätten, Tageskliniken und für die besonders schwer Erkrankten die Psychiatrische Klinik. Sie alle sind Lobby der seelisch Erkrankten.

Gut wäre, wenn der Leiter einer Beschwerdestelle sich zunächst sachkundig machen würde, welche Methoden der Deeskalation angewandt werden. Kein Patient wird fixiert, ohne dass ein Gesprächsangebot gemacht wurde. Fixierungen stellen stets das letzte Mittel der Gefahrenabwehr dar und müssen kurzfristig richterlich überprüft werden. Herr Döring weiß und verschweigt dies.

Zur Festhaltemethode: Hier halten, wenn andere deeskalierende Maßnahmen nicht gefruchtet haben (!), mehrere Mitarbeiter den tobenden, schreienden, schlagenden, tretenden und spuckenden Menschen so lange fest, bis keine Gefahr mehr von ihm für sich oder andere ausgeht. Es ist auch ohne Pandemie fraglich, ob diese Methode wirklich geeigneter und würdevoller für die Betroffenen ist als eine Fixierung mit permanent vorhandenem Sichtkontakt und Redemöglichkeit.

Von den Gefahren für die haltenden Pflegekräfte mal ganz zu schweigen. Zwangsmedikationen als „Mittel der Wahl“ zu bezeichnen zeigt, wie weit weg Herr Döring sich von der Klinikrealität befindet: Wenn sie nicht unmittelbar im Sinne eines rechtfertigenden Notstandes zur Rettung von Leib und Leben erforderlich sind, müssen sie zunächst richterlich genehmigt werden. Um eine richterliche Genehmigung zu erhalten muss dargelegt werden, weshalb es überhaupt einer medikamentösen Behandlung zwingend bedarf und dass es zahlreiche erfolglose Überzeugungsversuche zur Medikamenteneinnahme gegeben hat.

So vergehen meist Wochen, bis eine richterliche Genehmigung vorliegt. In der Folge bleiben hochgradig erregte, ihr eigenes Kranksein nicht erkennende Menschen medikamentös unbehandelt. Schön wäre, würde die IBB an diesem Punkt ansetzen und auf politischem Wege versuchen, Lobby für die seelisch Erkrankten zu sei. Ein weiteres Dilemma ist, dass immer mehr Gewalt aus der Gesellschaft in die Psychiatrie hineingetragen wird, in der irrigen Annahme, die Psychiatrie könnte dieses Problem lösen. Leider könnte dieser Artikel dazu führen, dass Ängste vor einer stationären psychiatrischen Behandlung geschürt werden, sodass sich Betroffene die dringend benötigte Hilfe nicht holen – mit unabsehbaren Folgen. Diejenigen hatten dann keine Lobby!

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