Leserbriefe

Mehr Eigenverantwortung

Gerd Lichtenauer, Großbettlingen. Zum Tagesthema Enthemmt vom 19. November. Mit 40 Jahren Berufstätigkeit als Lehrer an Grund- und Hauptschulen fällt mir zur zunehmenden Gewalttätigkeit von Jugendlichen jede Menge ein. Zunächst ein Blick auf die Gegebenheiten. Die Eltern zerfallen grob gesehen in zwei Gruppen. Die Mehrheit kümmert sich sehr bemüht um die Entwicklung ihrer Kinder. Diese Eltern besuchen die Elternabende und Sprechstunden der Schule, sehen nach den Hausaufgaben und engagieren sich nach Kräften in der Schularbeit. Ein anderer Teil der Eltern tut wenig oder nichts von alledem. Es gibt zu Hause wenig gemeinsames Leben, zum Teil nicht einmal gemeinsame Mahlzeiten, wenig Regeln oder niemanden, der die Einhaltung von Regeln einfordert. Stattdessen gibt es materielle Verwöhnung. Bei einer Erhebung bei Elf- bis Vierzehnjährigen war ich von den Socken, wie viele der Kinder über ein eigenes Equipment an Unterhaltungselektronik verfügen. Gleichzeitig haben die meisten dieser Kinder kaum differenzierte eigene Interessen. Damit geht einher, dass die Leistungsfähigkeit von Hauptschülern in den letzten Jahrzehnten erschreckend zurückgegangen ist. Das Gros der Hauptschüler ist in der heutigen Wissensgesellschaft nicht mehr zu Hause. Diese geringe Leistungsfähigkeit bleibt den Jugendlichen natürlich nicht verborgen. Folge ist ein gering entwickeltes Selbstwertgefühl, das sich in großer Empfindlichkeit zeigt. Hinzu kommen die katastrophalen beruflichen Perspektiven.

Ich sehe folgende Lösungsansätze: In der Gesellschaft muss wieder Einigkeit darüber herrschen, dass jeder Mensch ein Stück Eigenverantwortung hat. Vor allem haben Eltern Verantwortung für die Entwicklung ihrer Kinder. Wenn ich lese, dass Polizisten auf völlig gleichgültige Eltern treffen, wenn sie deren sturzbetrunkene Kinder zu Hause abliefern, dann frage ich mich: Was geschieht mit solchen Eltern? Wenn der Staat die Elternschaft von Menschen mit Kindergeld unterstützt, muss er dann nicht auch Elternleistung gegenüber der Gesellschaft einfordern? Solange bei einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung diese Einsicht noch nicht vorhanden ist, darf der Staat nicht ausgerechnet bei Sozialarbeitern, Lehrern, Polizei oder Richtern sparen.

Die Leistungsfähigkeit vieler Jugendlicher muss unbedingt erhöht werden. Sie müssen an Arbeit gewöhnt werden, nicht ans Nichtstun. Die Gesellschaft muss dafür sorgen, dass Arbeitsplätze in ausreichender Zahl auch für gering qualifizierte Jugendliche zur Verfügung stehen. Wenn die Wirtschaft dieser sozialen Verantwortung nicht nachkommt, dann muss der Staat diese Arbeitsplätze schaffen und die Wirtschaft zur Kasse bitten. Wenn wir nicht bald konkrete Schritte zur Lösung dieser Probleme tun, besteht die Gefahr, dass wir eines Nachts durch Randale wie in den Pariser Vorstädten ein schreckliches Erwachen erleben.

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