Leserbriefe

Gründlich Mist verzapft

Kai Hansen, Nürtingen. Zum Artikel „Bürgerrechte kappen? Kretschmann rudert zurück“ vom 26. Juni. Wie alle Menschen verzapfen auch Politiker manchmal gründlich Mist. Ministerpräsident Winfried Kretschmann will erwägen, „grundsätzlich das Regime zu ändern, sodass harte Eingriffe in die Bürgerfreiheit möglich werden“. Im Zusammenhang mit der Pandemie gehe es ihm nicht um weniger Freiheit, sondern um mehr Freiheit, um tiefgreifende Einschnitte in Freiheit und Grundrechte zu vermeiden. So wurde zitiert. Die widersinnige Verkehrung und die missbräuchliche Verwendung des Begriffs Freiheit ist bislang eher Sache totalitärer Staatenlenker in anderen Teilen der Welt.

Kretschmann stellt sich gern als philosophisch gebildeten Menschen dar. Hier hat er gründlich danebengegriffen. Leider stimmt er damit voll in den Chor ein, der bei Grünen und Linken oft vorzufindenden ist und einen materialistischen Mangel an Zutrauen in menschliche Bewusstseinsoffenheit pflegt, die eben nicht rücksichtslos, sondern um Verhältnismäßigkeit und Anerkennung bemüht ist. Nicht Optimierungszwang bringt Einsicht, sondern Regeln auf Basis geprüfter Fakten und maßvolle Argumente, die ehrlich und nachvollziehbar Konsequenzen aufzeigen. Dass diese Qualität auch rechts der Mitte eine Fehlanzeige ist, macht die Sache nur schlimmer. Es wird wahltaktisch vermieden, reinen Wein einzuschenken. Die Frage, aus welchem Menschenbild heraus das kommt, ist unverzichtbar. Dass sich Grenzen auflösen und verschieben, hat doch eher mit dem Verlust von Maß und Ziel zu tun und den daraus erwachsenden Gefährdungen. Wir müssen uns alle der Frage stellen, wie wir weiterleben wollen. Sicher nicht durch ein Regime, in dem alles über einen einzigen Kamm geschert wird.

Die Pandemie hat ganz offenbar vieles durcheinandergebracht. Hier ist es das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit. Der Tod gehört als Folge von Leben in den Bereich der Notwendigkeit und kann mittels Gesundheitsregime (Freiheitseinschränkung) hinausgezögert werden. Wer aber Freiheit für Notwendigkeit aufgibt, verrät das Leben. Denn es handelt sich hier um die zentralen Pole unseres Lebens. Das eine gibt es ohne das andere nicht. Sonst braucht man weder von offener Gesellschaft zu schwadronieren noch von sozialer Marktwirtschaft. Die Zusammenhänge und Folgen unserer Lebensweise lassen sich nicht mehr durch Lagerdenken lösen, wenn uns leben und leben lassen nicht wegregiert werden soll.

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