Leserbriefe

Der Wachstumswahn und der Bahnhof

Rainer Braun, Wendlingen. Ich verfolge regelmäßig die Diskussionen und Leserbriefe über das Projekt „Stuttgart 21“. Was mich dabei etwas irritiert, ist die hohe Emotionalität, mit der sich so mancher Bürger für oder gegen das Projekt einbringt. Denn bei allem Respekt vor der „Leidenschaft“, die diese Menschen aufbringen, sollte man nicht vergessen, dass es sich hierbei lediglich um ein „Bahnprojekt“ handelt. Keine Existenz oder Daseinsberechtigung dürfte davon abhängig sein, ob dieser Bahnhof gebaut wird oder nicht. Daher denke ich, dass das ursprüngliche Problem dieser teilweise auch mit „Wut“ geführten Diskussionen tiefer liegt. Ich glaube, es geht dabei viel mehr um die Frage, wie wir in Zukunft leben wollen?

Um etwas mehr Klarheit in diese doch sehr wichtige Frage zu bekommen, habe ich mir den Spaß erlaubt, meine persönliche Entwicklung mit der Entwicklung unseres Landes zu vergleichen, und dabei erstaunlich viele Gemeinsamkeiten entdeckt: Geboren im Jahre 1967 hat mich das Wirtschaftswunder von Anfang an begleitet. Das oberste Ziel war es immer, groß und stark zu werden. Gier war nichts Negatives, denn was auf dem Teller war, das musste auch gegessen werden. So kann ich heute auf eine glückliche und sorgenfreie Kindheit zurückblicken, in der es immer nur bergauf ging mit meiner Größe und meinem Gewicht. Wachstum war zu dem Schlüssel gemacht worden, der uns das Tor zum Paradies öffnen wird.

Doch mit dem Erreichen meiner Volljährigkeit Mitte der 80er-Jahre stagnierte mein Gewicht. Ich bekam eine „Rezession“ und musste sogar fürchten, in eine „Depression“ zu fallen. Doch ein genialer Arzt konnte helfen. „Beschleunigung“ war das Zauberwort. Wir beschleunigten alle Prozesse und wurden dadurch effizienter und produktiver. Es wurde nicht mehr „gegessen“, sondern „geschlungen“. Dadurch war es wieder möglich, Wachstum zu erzielen und an Gewicht zuzunehmen. Eine Entwicklungsmöglichkeit „ward geboren“, die uns bis in die heutige Zeit begleitet und unsere Lebensqualität nachhaltig verändert hat. Wir wurden zu „Getriebenen“.

Heute stellt sich mir die Situation folgendermaßen dar. Bei einer Körpergröße von 1,95 Meter bringe ich stolze 140 Kilogramm auf die Waage. Um dieses Gewicht halten zu können, benötige ich eine große Menge an Nahrung (Rohstoffe, Energie). Natürlich verursacht dieses Gewicht auch mancherlei Beschwerden (Burnout, Schlaf- und Essstörungen, Kreislauf- und Suchtprobleme). Um weiter wachsen zu können, bräuchte ich noch mehr Nahrung, die ich mir nicht leisten kann. Ich bin also gezwungen, vom Teller meiner Kinder zu essen (Schulden zu machen). Und genau an diesem Punkt spaltet sich meiner Ansicht nach die Gesellschaft, wenn es um die Frage geht, wie wir in die Zukunft gehen wollen.

Die Fortschritts- und Wachstumsgläubigen wollen den Bahnhof (die 150 Kilogramm auf der Waage) haben, koste es was es wolle, weil sie sonst eine „Depression“ befürchten. Die Vernunftorientierten haben das Motto „weniger ist mehr“ für sich entdeckt. Sie wollen diesen „Wachstumswahn“ nicht mehr mitmachen, aus dieser großen Party aussteigen und wieder bewusster leben. Was meine Person betrifft, so bin ich gespannt auf das Ergebnis der Volksabstimmung am 27. November. Die Ärzte jedenfalls raten mir schon lange zu einer deutlichen Gewichtsreduzierung.

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