Leserbriefe

Bürgerentscheid - was nun?

Helmut Nauendorf, Nürtingen. Wenn Entscheidungen bei Wahlen oder bei Bürgerentscheiden gefallen sind, ist die Zeit zum erneuten Nachdenken gekommen. Ich kenne Metzingen seit langem aus der Nähe. In den 60er-Jahren war ich Lehrer in Kohlberg und Kappishäusern, unsere Einkaufsstadt war Metzingen. Die Stadt hatte ihren Charme. Heute fahre ich oft nach Metzingen, weil meine Eltern dort begraben sind. Metzingen hat sich inzwischen gewaltig verändert. Wenn heute 85 Modemarken ihren Sitz in der Stadt haben, wenn jährlich über 2,5 Millionen Kunden aus aller Herren Länder in die Stadt kommen, dann ist klar, dass dies alles nicht für die Metzinger allein gebaut wurde. Es sind neue Straßenzüge, zum Teil Einkaufsstätten mit atemberaubender Architektur entstanden. Passt dies alles in eine Stadt mit über 20 000 Einwohnern? Sind die Verkehrsbelastungen, vor allem an den Wochenenden und vor Feiertagen für die Bürger noch erträglich? Von den ständigen Baumaßnahmen und den riesigen versiegelten Parkflächen ganz zu schweigen. Offensichtlich sind die Metzinger von ihrer eigenen Stadt allmählich entfremdet worden. Natürlich weiß jeder Metzinger, wem sie den Reichtum der Stadt mit ihren vorbildlichen Einrichtungen zu verdanken haben. Und trotzdem: Die Metzinger, jedenfalls die Mehrheit derer, die abgestimmt haben, wollten offensichtlich diese Entwicklung stoppen. Dies alles ist ein Stück weit nachvollziehbar.

Und doch: Das Ergebnis des Bürgerentscheids zwingt zum Nachdenken. Sind die Standorte von weltweit agierenden Unternehmen in Deutschland, im Exportland Baden-Württemberg zu halten, wenn wir ihnen notwendige Flächen für Erweiterungen verweigern? Computergesteuerte Logistik- oder Distributionszentren gehören im Zeitalter der Globalisierung dazu. Wie soll sonst zusammengeführt und verteilt werden? Es besteht kein Zweifel, dass derartige Zentren ob ihrer schieren Größe städtebaulich durchaus eine Herausforderung darstellen. Wenn der MTU in Salem, und jetzt der Hugo Boss AG in Metzingen derartige Entwicklungen verweigert werden, müssen sie zwangsläufig zu anderen Überlegungen kommen. Wir leben von der Industrie, vom Handwerk von Dienstleistungen. Dass diese Entwicklung mit viel „Landverbrauch“ in den industriellen Regionen unseres Landes vollzogen worden ist, weiß jeder. Dass diese Entwicklung von heute auf morgen zu stoppen wäre, ist ein Irrtum. Dies ginge nur um den Preis erheblicher sozialer Verwerfungen. Metzingen ist ein gutes Beispiel für den immer wieder fälligen Strukturwandel: Auf den Grundstücken der längst untergegangenen Textil- und Lederindustrie sind die Modetempel entstanden. Vielleicht war dieser Wandel zu gigantisch für eine Stadt dieser Größe. Bei derartigen Entwicklungen muss darauf geachtet werden, dass die Balance gehalten wird zwischen der Lebensqualität der Bürger und der notwendigen Sicherung von Industrie und Gewerbestandorten. Kurz: Über die weitere Entwicklung unserer Stadt Nürtingen ist auf dem Hintergrund des Metzinger Lehrstückes gemeinsam nachzudenken. Gemeinsam!

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