Leserbriefe

Türkei: Das ist noch ein langer Weg

Reinmar Wipper, Nürtingen. Zum Artikel „Der Tag, an dem Erdogan das Beten vergaß“ vom 9. Juni. Die Wahl in der Türkei ist vorbei. Der Partei des Herrn Erdogan hat es nicht zur Alleinherrschaft gereicht. Bei Weitem nicht. Und jetzt denkt er bereits über Neuwahlen nach. Man schüttelt ungläubig den Kopf. Aber das darf er ja nach türkischem Recht, wenn er nicht innerhalb von 45 Tagen Koalitionspartner findet, mit denen er eine regierungsfähige Mehrheit bilden könnte. Findet er die nicht, kann er nach einer gewissen Schamfrist Neuwahlen ausrufen.

Wie es tatsächlich um die politische Basis der führenden AKP in der Türkei bestellt ist, beleuchtet die Stellungnahme einer türkischen Wählerin aus Göppingen. Auf Seite zwei unserer Zeitung ist zu lesen: „Ich glaube nicht, dass eine Koalition gutgeht – wer will schon Partner haben, die auch bestimmen wollen? Besser, einer sagt, wo es langgeht. Darum ist es auch gut, dass nicht mehr Frauen ins Parlament kommen. Sie handeln nach dem Gefühl, nicht mit dem Verstand wie die Männer.“ Das sagt, wohlgemerkt, eine Frau!

Darüber hat der jiddische Dichter Aaron Zeitlin schon vor bald 80 Jahren geschrieben. In seinem Lied „Das Kälbl“ das als „Donna, Donna“ weltweit verbreitet ist. Mein Übertragungsversuch einiger Zeilen: „Arme Kälbchen tut man binden, schleppt sie weg und schächtet dann.“

Solange Herr Erdogan Demokratie mit den Paragraphen der Diktatur schreibt, haben die fortschrittlichen Kräfte noch einen langen Weg vor sich. Hier und in der Türkei müssten meine türkischen und kurdischen Freunde allen Kälbern, die der Bauer auf den Markt zum Schlachter fahren will, dieses Lied von Aaron Zeitlin singen, indem es auch heißt: „Wer heißt dich, ein Kalb zu sein? Wer Flügel hat, der fliegt empor, macht bei keinem sich zum Knecht!“

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