Dr. Martin Roser, Nürtingen. Zum Artikel „Psychiatrische Anstalt oder Haftstrafe“ vom 4. Mai. Als Chefarzt der Nürtinger Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, in der der im Artikel genannte Angeklagte seinerzeit behandelt wurde, muss ich der lapidar beschriebenen „Erkenntnis“ der Nürtinger Polizeibeamten scharf widersprechen, dass Patienten der Klinik „am Wochenende Ausgang zum Saufen“ bekommen.
Patienten erhalten im Rahmen ihrer gemeindenahen Behandlung aus therapeutischen Gründen Ausgang zu sogenannten Belastungserprobungen, bei denen sie sich im häuslichen Umfeld bewegen und so wieder Alltagskompetenz gewinnen sollen. Dies ist ein wichtiger Fortschritt in der gemeindenahen Versorgung psychisch kranker Menschen. Dass vereinzelt suchtkranke Menschen in ihrem Ausgang entgegen dem strikten Verbot der Klinik Alkohol konsumieren, lässt sich naturgemäß nicht völlig verhindern.
Deutschland liegt beim jährlichen Pro-Kopf-Verbrauch von reinem Alkohol immer wieder auf den weltweit vorderen Rängen, es handelt sich also um ein häufiges und großes Problem. Aus diesen Fehlhandlungen Einzelner jetzt zu unterstellen, die Klinik gewähre „Ausgang zum Saufen“, ist böswillig und völlig unsachlich, sowohl von dem, der das sagt, als auch von dem, der das im Artikel unkommentiert wiedergibt. Und es ist geradezu zynisch gegenüber dem Opfer des Übergriffs, dem mein volles Mitgefühl gilt. Die Klinik schränkt sehr wohl im Rahmen des Unterbringungsrechtes den Bewegungsradius einzelner Patienten zum Teil erheblich ein und kommt damit ihrer Schutzfunktion vollumfänglich nach.
Dass aber im Zuge einer ja auch gewünschten Besserung und Resozialisierung einzelner Patienten sehr, sehr selten auch einmal etwas Unvorhersehbares geschieht, ließe sich nur durch sehr restriktive und damit in der Sache kontraproduktive Behandlungen gänzlich ausschließen. Selbst forensisch untergebrachte Straftäter und auch Insassen von Haftanstalten erhalten Freigang, eben weil nur so eine angestrebte Wiedereingliederung in die Gesellschaft möglich ist.
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