Weihnachtsgrüße

Beitrag zu ein bisschen mehr Verständnis und Freundschaft

Ella Neumann unterstützt bei ihrem Aufenthalt die Arbeit in einem jüdischen Senioren- und Pflegeheim in Chicago – Vielseitige Angebote zwischen Morgengymnastik und Bingosessions

In ihrer Freizeit erkundet Ella Neumann Chicago, wie hier, wo sich ein Ausblick auf den Millennium-Park bietet.

Montagmorgen, 9.30 Uhr: Nach einem „Good Morning, how are you?“ meinerseits und einem „How was your weekend, Ella? Chicago is such a lovely city“ zurück, begleitet von einem Lächeln, beginne ich die „excercise class“. Die Bewohner sitzen in einem Halbkreis um mich herum und folgen meinen Instruktionen: „Lift your right foot from the ground and flex your ankle.“ So beginnt jeder meiner Arbeitstage im Selfhelp Home for the Aged in Chicago, einem jüdischen Senioren- und Pflegeheim, das in den 1930er-Jahren von flüchtenden Juden aus Nazi-Deutschland gegründet wurde und heute ein Zuhause für ungefähr 120 Senioren, den Residents, bietet.

Seit drei Monaten bin ich nun schon hier, mit der Organisation Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF). Dies ist eine Organisation, die jährlich über 180 Freiwillige nach ganz Europa, Russland, Israel und eben auch in die USA sendet, um aus der Verantwortung der Deutschen für den Holocaust heraus Friedensarbeit zu leisten. Die Arbeit hier ist ein unbeschreibliches Privileg und Glück. Die ausschließlich jüdischen Senioren sind unheimlich offen und freundlich und haben mich von der ersten Sekunde an herzlichst aufgenommen. Wir haben uns gegenseitig definitiv schon ins Herz geschlossen. Einige von ihnen sind als Kinder oder Jugendliche vor dem Nazi-Regime geflüchtet und sprechen noch Deutsch – auch mit mir.

Meine Aufgabe im Seniorenheim ist es, bei der Aktivitätengestaltung mitzuarbeiten. Dazu gehören die Vorbereitungen und das Helfen bei den vielfältigen Gruppen, die von vielen Freiwilligen täglich angeboten werden.

Aber auch das selbstständige Leiten von Programmpunkten, wie der wöchentlichen Bingosession oder eben der täglichen Morgengymnastik, wurde mir übertragen. Das sind beides ziemlich lustige Angelegenheiten. Aber vor allem die Fitness und das Durchhaltevermögen mancher Bewohner in solch hohem Alter ist bewundernswert. Der Altersdurchschnitt liegt bei ungefähr 93. Die Menschen hier sind unglaublich gebildet und weltoffen, viele ehemalige Lehrer, Künstler, Ärzte und Ingenieure leben im Selfhelp Home. Sie bringen so viel Lebensweisheit und spannende Geschichten mit. Am liebsten höre ich von ihren Romanzen, die meist das ganze Leben hielten.

Mit einem Resident, einem lebenslangen Musiker und ehemaligen Professor, konnte ich sogar schon im Duett Saxofon und Klavier spielen. Das hat uns so viel Freude bereitet, dass wir das ganz sicher wieder machen werden!

Aber auch gemeinsam häkeln oder backen oder einfach nur unterhalten ist eine schöne Möglichkeit, die Menschen besser kennenzulernen.

Besonders leidenschaftlich stehen die Bewohner (und ich) zum Thema Politik, wobei hier eigentlich alle liberal und demokratisch denken und auch wählen. Nicht selten höre ich von der Peinlichkeit durch „ihren“ Präsident, der das Land offensichtlich tief spaltet. Die aktuellen Geschehnisse wirken besonders hier aufwühlend und besorgniserregend. Dies war vor allem auch bei den Gedenkgottesdiensten für die Opfer des Anschlags in der Synagoge in Pittsburgh und zum 80. Jahrestag der Reichspogromnacht zu spüren. Umso mehr habe ich das Gefühl, mit diesem Friedensdienst einen vielleicht noch so kleinen, aber doch wichtigen Teil für ein bisschen mehr Verständnis und Freundschaft zwischen verschiedenen Kulturen beizutragen. Sei es deutsch-jüdisch oder deutsch-amerikanisch. In meiner Freizeit versuche ich Chicago kennenzulernen. Oft gemeinsam mit den drei anderen ASF-Freiwilligen in der Stadt und den Tipps „meiner“ Senioren folgend, die mir quasi als persönliche Reiseberater zur Seite stehen.

Außerdem hatte ich das Glück, einen tollen Chor in der Nähe zu finden. Dieser bringt mich mit einer anderen Seite der USA in Kontakt. Denn ein großer Teil der Chormitglieder ist afroamerikanisch und somit Teil einer noch immer offen benachteiligten Bevölkerungsschicht in den USA. Diese weitere offensichtliche Spaltung kann ich aber auch täglich beobachten. Denn die meisten angestellten Mitarbeiter im Seniorenheim in weniger gut bezahlen Posten, also zum Beispiel die Pfleger oder das Haushaltspersonal, sind Immigranten und sprechen gebrochenes Englisch. Wie ich Weihnachten verbringen werde? Das weiß ich noch nicht. Dafür habe ich hier mein erstes Hanukkah-Fest erleben dürfen, das jüdische Lichterfest, das dieses Jahr in den Dezember fiel. Dies wurde im feierlichem Kerzenlicht der vielen neunarmigen Menoraleuchter mit einer Party groß gefeiert. Begleitet von den hebräischen Gebeten und Hanukkah-Liedern lernte ich in festlicher Stimmung meine ersten hebräischen Worte: Chag Sameach – Happy Holidays!

Auch wenn nicht immer alles ganz einfach sein kann, bin ich sehr glücklich hier in Chicago und versuche die Chance dieses einjährigen Friedensdienstes im Ausland voll und ganz auszukosten.

In diesem Sinne wünsche ich euch allen eine gesegnete Weihnachtszeit und ein tolles neues Jahr! Danke an alle, die mir diese Zeit in den USA ermöglichen. Vielen Dank!

Ella Neumann

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