Licht der Hoffnung
Klang-Gemälde aus dem Reich der Mitte
Licht der Hoffnung: Das Shanghai Chinese Orchestra eroberte am Sonntag die Herzen der Nürtinger
Es war fast zu groß für die Bühne des K3N, das Shanghai Chinese Orchestra. Aber nicht nur zahlenmäßig war es ganz große Kunst, die da am Sonntagabend in der Nürtinger Stadthalle geboten wurde: Das Chinesische Neujahrskonzert, das der Verein Hölderlin-Nürtingen an den Neckar gebracht hatte, überraschte, verblüffte und begeisterte das Publikum.
NÜRTINGEN. Dass einem das Ensemble unter der Leitung von Wang Fujian einen solch bereichernden, ja beglückenden Abend schenkte, das lag sicher auch mit an der kundigen Moderation von Gerhard Schmitt-Thiel, der den Nürtingern den Weg in eine vermeintlich fremde Klangwelt ganz leicht machte: Man war schnell mittendrin, nicht nur dabei.
Sicher auch, weil Schmitt-Thiel den Schwaben ein Zitat des chinesischen National-Weisen Konfuzius ans Herz legte: Wenn man Musik höre, solle man nicht Hirn und Verstand aufmachen, um irgendetwas zu verstehen, sondern Herz und Seele öffnen, riet der seinen Landsleuten schon vor zweieinhalbtausend Jahren. „Nach einer kurzen Zeit werden Sie die Freude spüren“: Im Grunde dauerte es nur ein paar Sekunden, bis Schmitt-Thiels Prophezeiung zur Wirklichkeit wurde.
Vom ersten Moment an: Musik im Breitwandformat
Der „Mondschein über dem Frühlings-Fluss“ war vielleicht noch das „chinesischste“ unter den Stücken des riesigen Orchesters, in dem Celli und Bässe aus Europa wundervoll mit traditionellen Instrumenten aus Fernost harmonieren. Die erste Melodie entsprach vermutlich noch am ehesten dem Bild, das sich die meisten vor dem Konzert von dem gemacht hatten, was sie da erwartete. Oder man hatte sich eben in Windeseile an diese andersartige Klangwelt gewohnt. Auf jeden Fall: Das war vom ersten Moment an Musik im Breitwandformat – fantastische Klangfülle, in Höhen und in Tiefen. Und die jeweiligen Themen wurden optimal umgesetzt.
Auch von den drei großartigen Solisten, die den ersten Teil des Konzertes bereicherten: Li Wanci brillierte sowohl mit der kleinen als auch mit der großen Dizi. Diese chinesische Bambusflöte soll angeblich schon seit 8000 Jahren gespielt werden, und die gebürtige Taiwanesin gehört in China zu den berühmtesten Künstlerinnen damit. Bei der „Trauer am Berg“ und den „Höhenflügen“ beeindruckte der Dialog zwischen der zarten Flöte und dem bombastischen Orchester: Mal klang das wie Vogelgezwitscher im Frühlingswald, mal wie ein sanft dahinfließender Fluss, mal wie ein entfesselter Hornissenschwarm. Und immer wieder fragte man sich, woher diese zarte Person überhaupt die Luft zu solch ebenso facettenreichem wie intensivem Spiel nimmt.
Enorme Fingerfertigkeit ließ einen beim Bronzetrommeltanz, den Tang Yiwen mit der Liuqin (einer Art chinesischer Mandoline) intonierte, immer wieder staunen. Auch sie schaffte den Spagat zwischen den wunderschönen leisen Tönen und regelrecht entfesselt-wilden Passagen grandios. Und so mancher wunderte sich gewiss, wie toll man mit Zupf- respektive gezupften Streichinstrumenten Klang und Rhythmus von Trommeln imitieren kann.
Mit dem Cello in die Innere Mongolei
In die Innere Mongolei entführte Chen Weiping mit seinem Cello das Publikum. Einfach traumhaft, wie sich das „westliche“ Instrument da mit seinen fernöstlichen Pendants verband, wie die Töne miteinander verschmolzen: Mal kam man sich wie mitten in einer Liebes-Schnulze vor, dann rasten die Pferde-Horden über die Steppe. Schlichtweg hinreißend!
Und dieses Prädikat kann man auch dem Klang-Gemälde über die „Seidenstraße“ zuerkennen: Da zog das Orchester alle Register, verband musikalisch Orient und China, da türmten sich mächtige Gebirge auf, da zogen Karawanen durch endlose Wüsten, da wimmelte es auf Basaren, da drehten sich Derwische in rasender Geschwindigkeit beim Tanz – all dies tauchte in dieser prachtvollen Interpretation vor dem inneren Auge auf.
Vollends die Herzen der Nürtinger eroberten die Gäste aus dem Reich der Mitte mit den Zugaben – unter anderem mit Johann Strauß’ Polka „Unter Blitz und Donner“, die ja auch fester Bestandteil des legendären Neujahrskonzertes der Wiener Philharmoniker ist. Europäische Ohrwürmer funktionieren offenkundig auch mit chinesischen Instrumenten.
Auch das war eine wunderschöne Botschaft dieses Abends: Man spürte regelrecht körperlich, dass sich die Kulturen gar nicht so fern sind, wie manche wähnen. Man muss halt nur Herz und Seele öffnen.