Licht der Hoffnung
Ein Zwiefacher der Freude
Licht der Hoffnung: AlpenKlezmer und Kapelle Rohrfrei rissen ihr Publikum mit moderner Volksmusik mit
Volksmusik muss nicht volksdümmlich oder gar volksverdummend sein. Der Beweis dafür wurde vorgestern Abend in der Gemeindehalle Oberboihingen angetreten: Die Kapelle Rohrfrei und das Ensemble AlpenKlezmer bewiesen beim Auftakt zum Festival der Hoffnung, dass auch Folklore aus deutschen Landen voller Niveau, Witz und mit einer Portion Frechheit sein kann.
Dieses Konzert, das dank der Unterstützung durch die Volksbank Kirchheim-Nürtingen möglich wurde, war mehr als eine musikalische Gratwanderung. Die hat den Nachteil, dass man zuweilen wie bei einer echten Bergtour geradezu verkrampft versucht, den Mittelweg einzuhalten – nur um ja nicht abzugleiten und eventuell in den Abgrund zu stürzen.
Beide Bands, die unserer Aktion „Licht der Hoffnung“ einen solch furiosen Auftakt schenkten, scheuen indes nicht davor zurück, Grenzen zu überwinden und nachgerade lustvoll hin und her zu hüpfen. Und gerade dadurch neue Verbindungen zu schaffen, an die man entweder noch gar nicht gedacht oder gar nicht für möglich gehalten hätte.
Ganz so weit wie SWR 1, wo tagaus, tagein „die größten Hits aller Zeiten“ abgenudelt werden (und zwar in der Regel dieselben), ist die Kapelle Rohrfrei zwar noch nicht. Sie müssen sich (noch) mit „den größten Hits der vergangenen drei Jahrhunderte“ bescheiden. Aber die tun’s für den Moment ja auch. Zumal, wenn sie derart grandios durch den musikalischen Wolf gedreht werden wie von der Truppe aus fränkischen Landen.
Schräg ist deren Aufzug, schräg auch deren Musik. Aber von den ersten Klängen an kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus. Da klingt etwas im ersten Moment wie ein bajuwarischer Landler – aber bei näherem Hinhören entpuppt sich die „Sommerzeit“-Nummer dann als Cocktail aus Mungo Jerrys „In the summertime“ und George Gershwins „Summertime“.
Anderes wiederum ist Blödsinn pur. Aber von der herrlichsten Art – sei es nun die bayerische Version des Berliner Ohrwurms von der Holzauktion im Grunewald („Im Böhmerwald ham’s Holzkohl g’stohl’n“), sei es der Gassenhauer „Mein Herz, das ist ein Bienenhaus“, dem man nicht anmerkte, dass er schon weit mehr als ein Jahrhundert auf dem Buckel hat.
Minute für Minute spürte man, welch exzellente Musiker da ihrer puren Lust am Spiel Flügel verleihen: So manch einer konnte kaum fassen, dass und wie Katja Lachmann ebenso brillant die mächtige Tuba beherrscht, wie sie der zierlichen Querflöte ihre Stärken zu entlocken versteht.
Mal Höchstgeschwindigkeit, mal ganz leise Töne
David Saam ist ein Meister des Akkordeons, dem Statik etwas völlig Fremdes ist und der auf seinem Instrument nicht nur die tollsten Läufe absolviert, sondern dazu auch noch singt und tanzt. Stefan Gessler scheint mit seiner Trompete verwachsen zu sein und kann auch noch das schnellste Tempo mitgehen.
Und Christoph Lambertz schlägt einen durch seine Vielseitigkeit in den Bann: ein Virtuose mit der Klarinette, der problemlos in jeder Klezmer-Band mitspielen könnte, aber auch ein Liebhaber des Dudelsacks, der regelrecht zärtlich mit seiner Deutschen Schäferpfeife (als solche war das Instrument auch hierzulande dereinst durchaus in Gebrauch) umgeht. Die Melodien, in denen er die Hauptrolle spielte (wie zum Beispiel dem „Opel-Kadett-Walzer“), hatten da durchaus etwas Irisch-Beschwingtes. Und stünden nicht die Konventionen des Schwabenlandes dagegen („Was dädet do bloß d’Leit saga?!“), hätte nicht nur da sicher so mancher gerne losgetanzt.
Ovationen gab es nicht zuletzt für die Stücke, bei denen einfach nach Herzenslust Gas gegeben wurde: „Dem Winnetou sei Pferd“ galoppierte in Höchstgeschwindigkeit durch den Saal. Und „Die böse Forelle“ schoss in der Bearbeitung der Rohrfrei-Truppe tatsächlich vorüber wie ein Pfeil. Mit der neuen Nürtinger Fischtreppe hätte sie nicht die geringsten Schwierigkeiten, und Franz Schuberts Original-Artgenossin hätte, so launisch sie auch sein mag, nicht die geringste Chance gegen die fränkische Variante.
Da war es für Andrea Pancur und ihr Ensemble AlpenKlezmer nicht gerade einfach, etwas Tempo herauszunehmen. Aber gemeinsam mit Ilya Shneyveys aus Lettlands Hauptstadt Riga (auch er ein fantastischer Akkordeonist, zudem ein exzellenter Pianist), Drummer Guy Schalom aus London und dem Top-Bassisten Hansjörg Gehring aus dem schönen Gunzesried im Allgäu schaffte sie auch dieses Kunststück.
Das Programm von AlpenKlezmer hat ohnehin irgendwas mit Zauberei zu tun. Ilya Shneyveys und Andrea Pancur, quasi Vater und Mutter dieses Projekts, verwandeln bayerische Lieder in jüdische und jüdische in bayerische. Und zwar so perfekt, dass man (würde es nicht immer wieder mal angesagt) nicht erkennen würde, was nun das Original ist und was die Bearbeitung. Das Publikum ist auf jeden Fall verzaubert von diesem musikalischen Verwandlungsspiel.
Das geht zuweilen auch unter die Haut. Denn man fühlt regelrecht körperlich, dass Kulturen, von denen es zu Zeiten des Nazi-Wahnsinns hieß, sie hätten nichts miteinander zu tun, sich näher sind, als mancher auch heute noch wähnt. AlpenKlezmer beweist, dass sie sogar miteinander verschmelzen können – zu einer ganz eigenen Einheit, bei der die Frage, was denn nun konkret woher kommt, letztlich völlig unerheblich wirkt und wird. Weil man sich ganz einfach mitten hinein in die Lebensfreude, die viele dieser Melodien prägt, hineinzubegeben vermag.
Und so ganz nebenbei ereignet sich dann auch noch die Ehrenrettung des Jodelns. Andrea Pancur adelt diese Art des Gesangs förmlich. Kein einziger Ton bei ihr ist schmalzig, aber jeder davon innig, Spiegel echter Gefühle, Laut gewordene Sehnsucht. Wenn sie das „Herbstlied“ von Beyle Schaechter-Gottesman, einer 93-jährigen Jüdin, die in New York lebt, ins Bayerische überträgt, den Schmerz und das Entsetzen über das Vergangene mit der Dankbarkeit für das Gewesene kombiniert, und das Ganze am Ende noch mit einem A-cappella-Jodler voller Zärtlichkeit und Kraft krönt, dann läuft es einem eiskalt den Rücken hinunter. Weil man so ergriffen ist.
So ganz nebenbei ereignet sich die Ehrenrettung des Jodelns
Dennoch (oder gerade deswegen) hat das erste Konzert des Festivals der Hoffnung großen Spaß gemacht. Dem Zwiefachen, jenem bayerischen Volkstanz, bei dem sich gerade und ungerade Takte ständig und stetig abwechseln, kam dabei eine zentrale Rolle zu.
Irgendwie passend: Der ganze Abend entpuppte sich als Zwiefacher der Freude, weil sich da zwei Ensembles miteinander vereinten, als ob sie schon ewig miteinander spielten. Und dennoch war es am Sonntag das allererste Mal. Unsere Leser hatten etwas erlebt, was zuvor noch niemand gesehen hatte. Ihre Begeisterung führt aber dazu, dass dies nicht das letzte Mal bleiben dürfte. Das Licht der Hoffnung wird also auch in den Künstlern noch weiterleuchten.