Panorama

Die Stadt der Kanäle - und Taschendiebe

In Venedigs engen Gassen sind viele Taschendiebe unterwegs. (Archivbild) Christoph Sator/dpa

Man hätte gewarnt sein können. Die Hinweistafeln hängen ja in der ganzen Stadt, am Bahnhof Santa Lucia, auf dem Markusplatz, an den Vaporetto-Anlegestellen, und das in allen möglichen Sprachen. «Attenzione borseggiatori». «Attention pickpockets». «Beware pickpockets». Und «Achtung Taschendiebe» selbstverständlich auch. Aber dann ist das Portemonnaie halt doch nicht mehr in der Hosentasche. So geht es in Venedig ein paar Dutzend Urlaubern jeden Tag.

Was das Delikt Taschendiebstahl in der Kriminalitätsstatistik angeht, kann die italienische Lagunenstadt mit ihren nicht einmal mehr 50.000 Einwohnern locker mit Millionenmetropolen mithalten. Vor allem jetzt in der Hauptsaison: Die täglich bis zu 150.000 Besucher aus aller Welt versprechen lohnende Beute. In den engen Gassen sind keineswegs nur Kleinkriminelle aktiv, sondern richtige Banden: Männer, Frauen, Kinder. Und auch sie kommen in der Regel von außerhalb, Tagesbesucher sozusagen.

Nun ist das Problem mit den geklauten Geldbörsen in Venedig nicht ganz neu. Die Lokalzeitung «Il Gazzettino» klagte schon 1961: «Nessun giorno senza ladri» («Kein Tag ohne Diebe»). Mit dem zunehmenden Tourismus ist es inzwischen aber so schlimm geworden, dass Bürgermeister Luigi Brugnaro jetzt einen Hilferuf an Regierung und Parlament in Rom richtet - was die Venezianer mit ihrem in mehr als anderthalb Jahrtausenden angesammelten Stolz eher ungern tun. Er fordert dringend härtere Gesetze.

Auf dem Markusplatz ist die Gefahr besonders groß. (Archivbild) Christoph Sator/dpa

Einen Eindruck, wie groß das Problem inzwischen ist, bekommt man im Polizeirevier gegenüber dem Markusdom. Dort gibt es einen Raum mit 15 schwarzen Säcken voller Taschen und Brieftaschen - allein die Fundstücke aus den vergangenen anderthalb Monaten. In der Regel werfen die Diebe ihre Beute weg, wenn sie das Bargeld und die Kreditkarten herausgenommen haben. An Ausweispapieren sind sie wenig interessiert. Man findet die Portemonnaies dann auf dem Pflaster, in Briefkästen, in Gärten oder auch in den Kanälen.

Längst handelt es sich dabei um organisierte Kriminalität, das Werk von Banden. Meist sind es Leute vom Festland, aus Städten wie Mailand, die für ihr kriminelles Tagwerk nach Venedig gebracht werden, manchmal eigens in Kleinbussen. Inzwischen werden sogar Kinder im Alter von 12 oder 13 Jahren erwischt - gerade noch unter 14, der Altersgrenze für Strafbarkeit. Man nennt sie «baby borseggiatori»: «Baby-Taschendiebe». Auf Italienisch klingt das natürlich besser und harmloser. Meist kommen sie nach ein paar Stunden auf dem Revier am selben Tag wieder frei.

Als besonders gefährliche Gegenden gelten Santa Lucia, wo die Züge vom Festland ankommen, der Busbahnhof an der Piazzale Roma, die Anlegestellen der Gondeln und sonstigen Boote sowie die engen Gassen zwischen Rialtobrücke und Markusplatz. Manchmal ist dort in diesen Tagen kaum noch ein Durchkommen. Im dichten Gedränge haben Taschendiebe leichtes Spiel. Zwar hat die Stadt mehr als 850 Überwachungskameras aufhängen lassen. Die Aufnahmen laufen auf einer der vielen Inseln in einem Kontrollraum zusammen, der rund um die Uhr besetzt ist. Aber bis die Beamten da sind, ist es oft zu spät.

An den Anlegestellen von Gondeln und Fähren empfiehlt die Polizei besondere Wachsamkeit. (Archivbild) Christoph Sator/dpa

Außerdem, und das sorgt aktuell für enorm Ärger, ist die Gefahr, ins Gefängnis zu müssen, auch für erwischte Diebe nicht hoch. Polizeichef Marco Agostini klagte diese Woche in der Tageszeitung «Corriere della Sera» über eine «große Blase der Straflosigkeit». «Weil Taschendiebstähle nur auf Anzeige hin verfolgt werden können. Und wenn der Beraubte nicht zur Verhandlung erscheint, gilt die Anzeige als fallengelassen.» Die meisten Opfer sind Ausländer. Viele reisen am selben Tag wieder ab. So kommt es nur selten zum Prozess. Derzeit sitzen wegen Taschendiebstählen in Venedig gerade einmal vier Häftlinge ein.

Bürgermeister Brugnaro forderte die Politik in Rom deshalb in einem landesweit verbreiteten Appell auf, die Gesetze zu verschärfen. Eine vor einiger Zeit verabschiedete Reform, wonach zahlreiche kleinere Delikte nur noch auf Antrag der Geschädigten verfolgt werden, will er rückgängig machen. Bislang gab es jedoch nur einige kleinere Änderungen; beim Taschendiebstahl blieb alles beim Alten. «Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, dass solche Delikte zum Alltag gehören», so der Bürgermeister.

© dpa-infocom, dpa:250717-930-807263/1

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