Weihnachtsgrüße

Eine neue Heimat seit mehr als sechzig Jahren

Elisabeth und Kurt Lade grüßen aus Kanada Verwandte, Bekannte und Freunde in der Heimat ihrer Jugend – Wie alles begann

Die Jahre vergehen und wieder steht ein Weihnachtsfest vor der Tür und ein neues – hoffentlich – sicheres und erfolgreiches Jahr folgt! Für uns beginnt es zum 62. Mal in unserer kanadischen Heimat. Hier die Geschichte einer Auswanderung:

„Mehr als sechzig Jahre sind vergangen, seit ich die Entscheidung traf, Deutschland, das Land meiner Geburt, zu verlassen, um Glück und Wohlstand in einem Land zu suchen, das früher als Feindesland galt.

Im April 1953 nahm ich einen Zug, der mich von meiner Heimatstadt Nürtingen im Südwesten Deutschlands nach Bremen, genauer Bremerhaven in Norddeutschland, brachte. Drei Tage nach mei- ner Ankunft bes- tieg ich ein ehe- maliges Truppen- schiff Richtung Quebec, das voll beladen war mit Auswanderern. Meine damalige Freundin und jetzi- ge Ehefrau folgte mir ein Jahr später, im April 1954, vom gleichen Hafen aus. Zu dieser Zeit war Deutschland gerade dabei, sich von den Verwüstungen des Krieges zu erholen, den Deutschland zu Recht mit einem entsetzlich hohen Preis verloren hatte. Meine Entscheidung zu gehen hatte nichts damit zu tun, auch nicht mit wirtschaftlichen, politischen oder Glaubensgründen. Es war eher der Wunsch, eine neue und andersartige Welt und ihre Menschen zu erleben.

Aufgrund des Zweiten Weltkrieges und der Ansichten unseres politischen Systems zu dieser Zeit war das, was man unserer Generation in der Schule über Länder und Menschen außerhalb Deutschlands lehrte, unausgewogen und voreingenommen im Sinne meines Geburtslandes. Dies ließ einiges zu wünschen übrig und war sicherlich nicht vollständig.

Erst nach dem Krieg änderten sich die Unterrichtsinhalte und mir wurden Möglichkeiten in anderen Ländern bewusst, besonders auf dem nordamerikanischen Kontinent. Nun, als wir mehr über das Land der Fülle und unbegrenzten Möglichkeiten erfuhren, schlug das Pendel in die andere Richtung aus und wir blickten auf Besucher von dort mit Ehrfurcht und Bewunderung.

Ich bin mir sicher, dass ich dies im Hinterkopf hatte, als später die Neugier siegte und ich andere Länder und Kulturen sehen und darüber lernen wollte. Zu Hause wurde Nordamerika bislang als bevorzugtes Ziel für diejenigen gesehen, die hier in Schwierigkeiten waren, aber dieses Bild änderte sich jetzt.

Filme zeigten nun ein Land von gewaltiger und unendlicher Weite, große Autos und vielen Möglichkeiten, um reich und berühmt zu werden. Ich las die Bücher von Karl May und träumte davon, durch unendliche Weiten zu reiten, große Autos zu fahren und eines Tages reich und berühmt nach Hause zurückzukehren. Mit anderen Worten, Träume eines jungen Mannes, der sich nach weit entfernten Ufern sehnt.

Mein erster Versuch, um meine Neugier zu befriedigen war, mich um ein landwirtschaftliches Programm als Austauschstudent in den USA zu bewerben. Meine Bewerbung wurde allerdings im letzten Moment zurückgewiesen aufgrund der Verbindung meines Vaters zur NSDAP während des Hitler-Regimes.

Jedoch 1951 beziehungsweise 1952, als meine Schwester Eleanor mit ihrem Sohn Rudy nach Kanada einwanderte, sah ich wieder eine Möglichkeit und in ihr die benötigte Bezugsperson, um als Einwanderer anerkannt zu werden und so startete ich meinen Plan.

Nach der Ankunft mussten wir die Immigrations-Formalitäten klären und den kanadischen Gesundheitsvorschriften Genüge leisten. Von dort wurden wir zu einer großen Halle geleitet, um den Zoll abzuwickeln. Die meisten von uns hatten große hölzerne Container, um persönliche Gegenstände mitzuführen. Diejenigen, die als Familien kamen, hatten oft auch Haushaltsgegenstände und Möbel dabei. Für die Zollabfertigung warteten wir in einer großen Halle, platziert in alphabetischer Reihenfolge, um unsere Behältnisse zu öffnen und auszupacken.

Wir alle waren, bevor wir in Deutschland an Bord gingen und bevor wir das Schiff wieder verließen, davor gewarnt worden, dass wir nach Kanada keinerlei Fleisch, Lebensmittel in Dosen, Pflanzen oder Saatgut aller Art einführen durften.

Viele Menschen ignorierten diese Anweisung, nur um schließlich doch das zu verlieren, was sie zu verstecken versuchten. Ich hatte eine große gerauchte Wurst in meinem Handgepäck übrig, welche wir noch am Abend zuvor an Bord gegessen hatten.

Nach der Zoll- und landwirtschaftlichen Überprüfung in Kanada wurden unsere Behältnisse und Koffer als verzollt abgestempelt und wir mussten alles wieder einpacken.

Anschließend mussten wir nach Leuten Ausschau halten, die unser Gepäck erneut versiegelten und unsere Weiterfahrt per Zug zu unserem endgültigen Reiseziel arrangierten. Dieser Service war in der Reisegebühr eingeschlossen, außer dem Trinkgeld. Weil ich nur wenige Dollars hatte, gab ich jedem einen halben Dollar. Das war alles, was ich mir leisten konnte.

Wir wurden zu einem Zug geleitet. Die Extra-Waggons für Immigranten waren hinten angehängt. Diese hatten wenig Komfort und hölzerne Sitzbänke. Es war jetzt nach Mittag und wir wurden hungrig. Wir schauten uns nach einem Speisewagen um, konnten aber keinen finden. Dann sahen wir etwas, das wie ein Essensstand aussah, knapp 20 Meter entfernt auf der anderen Seite der Gleise. Wir drei entschieden uns, dorthin zu rennen in der Hoffnung, dass der Zug nicht abfuhr, bevor wir zurückgekehrt waren. Wir waren gerade auf halber Strecke, als wir einen Pfiff hörten und sahen, wie unser Zug anfing, sich zu bewegen. Wir drehten um und rasten zurück, gerade noch rechtzeitig, als er schon Geschwindigkeit aufnahm. Endlich waren wir auf unserem Weg Richtung Toronto, aber wir waren jetzt hungrig und durstig. Schließlich, an einem der Reisestopps, fanden wir einen Kiosk, wo wir Kleinigkeiten kauften, um unseren schlimmsten Hunger und Durst zu stillen.

Einige der Einwanderer stiegen an Stationen entlang der Strecke aus, aber wir drei und andere blieben bis Toronto sitzen. Das war die Endstation und alle mussten aussteigen. Hier musste ich den Zug nach Sarnia nehmen. Meine beiden Freunde blieben in Toronto und so verabschiedeten wir uns und versprachen, nicht den Kontakt zu verlieren. Während wir warteten, starrten uns die Leute an, weil wir alle wie Immigranten ausgesehen haben mussten. In meinem Fall waren meine Hosen Knickerbockers aus Samt und mein Wintermantel gerade lang genug, diese zu bedecken, meine Knie waren frei, ausgenommen meiner Kniestrümpfe.

Ich muss für die Leute hier ausgesehen haben wie ein Golfer aus den 1920er-Jahren und als ich realisierte, dass sie meine Kleidung musterten, versteckte ich mich. Hier war ich, beobachtet und verhöhnt von den Leuten und nichts daran zu ändern!

Später würde ich einige meiner Kleider heimschicken, einschließlich meiner geliebten Lederhosen, diese Art von kurzen Lederhosen, die wir zu Hause den ganzen Sommer lang trugen. Wenn man so etwas hier trägt, würde man als Idiot angesehen werden.

Ich lauschte den Ansagen verschiedener Züge und da wir alle wenig oder gar kein Englisch sprachen, mussten wir sehr aufmerksam sein, aber schließlich ertönte „Sarnia“. Ich verabschiedete mich und eilte zu meinem Zug. Diesmal war es ein normaler Zug mit guten Sitzen und einem Speisewagen, aber ich war zu furchtsam um aufzustehen und zu essen, und unsicher darüber, wonach ich fragen sollte. Darüber hinaus hatte ich nur wenig kanadisches Geld und war mir nicht sicher über die Preise im Speisewagen. Ich war nun über 15 Stunden ohne eine richtige Mahlzeit. Schließlich kamen wir in Sarnia an, wo meine Schwester und mein Schwager am Bahnhof auf mich warteten.

Nach einem warmen und herzlichen Empfang fuhren wir mit ihrem kleinen Morris Mini, einem englischen Modell, los. Auf dem Weg hielten wir an einem Supermarkt, um einige Lebensmittel zu kaufen. Drinnen quollen meine Augen über beim Anblick all der verschiedenen erhältlichen Nahrungsmittel, einfach zum Mitnehmen. Zu Hause hatten wir nur kleine Läden, mussten warten um bedient zu werden und zuweilen lange in der Schlange stehen. Außerdem gab es 1953 nicht die Auswahl an Essen und anderen Produkten, wie ich sie hier sah. Zu Hause mussten wir Taschen mitbringen, um unsere Lebensmittel einzupacken und Behältnisse, um Flüssigkeiten wie beispielsweise Milch abzufüllen. Hier wurden Ta- schen ausgeben und die Milch war in Flaschen abge- füllt. Zu Hause kauften wir die Eier einzeln und hier im Karton dutzendweise. Die Fleischtheke erschien wie eine Meile lang und bot Fleisch- und Wurstproduk- te, die ich niemals zuvor gesehen oder probiert hatte. Brot jedoch war eine Enttäuschung, da wir an knuspriges Roggen- oder helles Weizenbrot zusammen mit knusprigen Brötchen und Brezeln gewöhnt waren. Eine Scheibe Toastbrot hier war wie Flaum und verklebte im Mund. Wenn es jedoch getoastet wurde, schmeckte es gar nicht mal so schlecht.

Schließlich kamen wir spät am Abend in der gemieteten Wohnung meiner Schwester und meines Schwagers an, ungefähr sieben Meilen östlich von Sarnia am Highway 22. Es war eine große Gefügelfarm mit einer Aufzucht von 10 000 Legehennen unter einem Dach plus einer Scheune für Hühnchen. Allen Durance, der Bruder eines der Partner, lebte unten, meine Schwester mit Familie oben. Nach dem Abladen fragte mich meine Schwester, ob ich hungrig sei oder ins Bett gehen wollte. Ich versicherte ihr, dass ich fast am Verhungern sei. Was denkt ihr, was sie fragte und was könnte ich wohl geantwortet haben? ,Magst Du Eier haben?‘, fragte sie mich. ,Ja‘, sagte ich, ,sehr gerne.‘ Zu Hause, da sie sehr teuer waren, war ich glücklich, wenn ich eins in der Woche bekam. ,Wie viele magst Du haben?‘, fragte sie mich wieder. ,Wie viele kann ich haben?‘, antwortete ich. ,So viele Du willst‘, war die Antwort und so sagte ich ,Bitte fülle eine Bratpfanne‘ – was sie mit zwölf Eiern machte. Ich denke, in den folgenden zwei Wochen aß ich mehr Eier als jemals in meinem Leben zuvor. Und so begann mein Leben in Kanada.“

Wir wünschen euch ein gesegnetes Weihnachtsfest in der Mitte von Familie und Freunden, aber vor allem Gesundheit, Frieden und Erfolg für 2016!

Eure Kanadier Elisabeth und Kurt Lade

(Auszug aus den Erinnerungen von Kurt Lade – aus dem Englischen übersetzt/lh)

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