Leserbriefe

Nürtingen atmet noch!

Reinmar Wipper, Nürtingen. Zum Artikel „Räumungsklage gegen Villa-Bewohner“ vom 14. Juli. Am Samstag war Klassentreffen, Abi 1963. Nach dem Besuch im Blockturm – wir waren Otto Zondlers letzte Kunst-AG – saßen wir in der Brunnsteige beim Abendessen. Elf von vierundzwanzig.

Dann hörte man die Trommeln, und schon bog der Traktor ein, mit Musikanhänger. Die Demo der Villa-Bewohner vom Galgenberg, samt Freunden. Neben mir Volker aus Hamburg, gegenüber Rolf aus Bonn, daneben Sepp aus Köln. Mehr oder minder sprachlos. Was bloß ist denn das? Mitten im beschaulichen Nürtingen? Nur Hanne jauchzte: „Guck amol do no! So was hemmr bei ons auf dr Alb net!“.

Eine große WG, an die 20 Leute, so erklärte ich, sollen als städtische Mieter aus ihrer Unterkunft geklagt werden. Jetzt demonstrieren sie dagegen. Ob das Sinn mache, wurde gefragt, da würden doch Lebensverhältnisse produziert, für die eine Stadt erst recht aufkommen müsste. Dann kam die Grundsatzfrage, messerscharf: Was steckt denn wirklich dahinter? Und dann stürmten vier, fünf meiner ehemaligen Schulfreunde mit dem Fotoapparat Richtung Marktbrunnen. Warum macht ihr denn davon Fotos, habe ich sie gefragt. Volker sprach für alle: Ich kenne ja die Besetzerszene in der Großstadt. Es haut mich total um, dass ihr in meinem alten Nürtingen so was Ähnliches habt, so was wie Urbanität, alternative Lebensweisen. Und das sogar mit dem biederen Rathaus als Hintergrund – einfach geil!

Es kam mir vor wie eine Parodie mit Loriot: Früher war aber mehr Fachwerk. Früher hatten wir auf Otto Zondlers Klapphockern das Riegerhaus skizziert. Heute wickeln langhaarige Lebenskünstler ihre Spruchbänder um den Marktbrunnen. Und sind dann mal wieder weg.

Vor drei Jahren waren wir das letzte Mal beieinander. In zwei Jahren wollen wir wieder. Etwas eher, altershalber. Vielleicht wäre nur ein Jahr besser. Dann aber mit noch mehr urbanem Flair. Das gibt uns Vor-Achtundsechzigern Trost. Man hat uns 15 Jahre nach der Nazizeit Garanten der Freiheit genannt. Am Samstag habe ich wieder ein paar davon gesehen. Es könnten meine Enkel sein. Nürtingen atmet noch!

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