Leserbriefe

Toiletten für alle fehlen in Nürtingen bisher

Dorothea Röcker, Nürtingen. Zum Artikel „Abenteuer Barrierefreiheit“ vom 19. März.

Dass sich in meinem familiären Umfeld mehrere Personen aus verschiedenen Gründen und beruflichen Perspektiven mit Behindertenrechten befassen, hat auch meine Sicht auf das Thema Barrierefreiheit erweitert. Ich habe mich lange gefragt, warum viele Barrieren, die uns Bryan Becker so anschaulich vor Augen führt, immer noch existieren und warum trotz aller Bemühungen um Barrierefreiheit auch neue Barrieren entstehen.

Treppen oder Steigungen, welche auch älteren Menschen oder jungen Familien Probleme bereiten, werden häufig erst dadurch zur Barriere, dass an ganz anderer Stelle ein alternativer Zugangsweg fehlt. Deshalb lässt sich Barrierefreiheit nicht allein über Bauvorschriften und -normen erreichen. Diese enthalten Vorgaben, wie etwas umzusetzen ist, wenn es umgesetzt wird, aber auch Sollvorschriften und Ausnahmeregelungen, für die sich immer Gründe und „Ausreden“ finden lassen.

Barrierefreiheit erfordert eine ganzheitliche Sicht, die an den Belangen der Betroffenen ansetzt und über das einzelne Bauvorhaben hinausreicht. Sie lässt sich nur erreichen, wenn vorab geklärt wird, was überhaupt umgesetzt werden muss, um im Gesamtergebnis allen eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen. Dies geht in Nürtingen oft schief, wie das Beispiel des „Closett Heinrich“ am Galgenberg eindrucksvoll belegt. Stufen vor einer Behindertentoilette und zu kleine Bewegungsflächen für Rollstuhlfahrer auf einem Podest ohne Wendemöglichkeit sind Dinge, die nach DIN 18040 ebenso wenig passieren dürfen wie fehlende Absturzsicherungen und Handläufe. Dass der Bau anders aussieht als auf den Plänen, die dem Bauausschuss vorlagen, ist nur ein Teil des Problems.

Mit Blick auf die Barrierefreiheit muss sich der Bauausschuss fragen lassen, warum die Toilette nicht mit Lifter und Liege geplant wurde. Wurde das wirklich abgewogen? Schließlich sind etwa 20 Prozent der Rollstuhlfahrer auf Lifter und Liege angewiesen, ohne die deren Begleitpersonen die nötige Assistenz nicht leisten können. Dass wir die Betroffenen so selten in Freizeitanlagen wie am Galgenberg treffen, hat auch damit zu tun, dass „Toiletten für alle“ fehlen. Letztlich sind solche Defizite in den Planungsverfahren das, was die UN-Behindertenrechtskonvention „einstellungsbedingte Barrieren“ nennt. Es dürfte sie nicht geben. Deutschland hat sich nach Artikel 4 UN-BRK verpflichtet, alle geeigneten Gesetzgebungs- und Verwaltungsmaßnahmen zur Umsetzung der in der UN-BRK anerkannten Rechte zu treffen, Handlungen oder Praktiken, die unvereinbar sind, zu unterlassen und dafür zu sorgen, dass Behörden und öffentliche Einrichtungen im Einklang mit der UN-Konvention handeln.

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