Leserbriefe

Die Abschiebung der Familie von Leijla

Sara Betic, Esslingen. An dem Geburtstag meiner besten Freundin habe ich noch nicht gewusst, dass in Deutschland Gesetze gelten, die gegen den gesunden Menschenverstand verstoßen. Fast auf den Tag genau eine Woche später erreicht mich ein Anruf mitten in der Nacht, der mein komplettes Weltbild zerstört und mich meinen Glauben an die Menschheit in Frage stellen lässt.

„Sie haben alle mitgenommen. Abgeschoben. Ich bin allein.“ Nachdem ich um circa 1 Uhr nachts zur Wohnung der Familie gefahren bin, wurde ich von unsagbarer Traurigkeit in den Augen meiner Freundin begrüßt. Der Freundin, die ich während der Schulzeit kennengelernt habe, mit der ich meine Gedanken und Gefühle, meine Freuden und Sorgen immer geteilt habe. Deren Familie mich mein halbes Leben begleitet hat, die über die Jahre Teil meiner Familie wurde und auf jede Frage, die sie mir völlig aufgelöst stellt, kannte ich in dem Moment nur zwei Antworten: „Ich weiß es nicht. Ich fass es nicht.“

Und die Fassungslosigkeit sollte mich beim schweren Gang durch die leeren Zimmer begleiten. Alles war aus den Schränken geholt und durchwühlt, weil nur das Wichtigste mitgenommen wurde. In der Küche wurde das Abendessen kalt, im Zimmer der Schwestern lagen Lejlas Schulunterlagen, die sie für ihre anstehende Prüfung am morgigen Tag vorbereitet hatte, auf dem Boden. Diese Nacht wurde für meine Freundin und mich zu einem ewigen Hoffen und Bangen, weil Lejla sich erst wieder bei uns melden durfte, nachdem die Familie nach Stunden außer Landes gebracht wurde.

Von zu Hause in ein fremdes Land, gefühlte vierzig Jahre in die Vergangenheit. Hier wollte Lejla meinen Rat annehmen weiter auf die Schule zu gehen, um später zu studieren. Dort darf sie als junge Frau nicht einmal arbeiten. Hier hat sie sich für Ernährungswissenschaft interessiert und dort meint sie: „[...] kann ich nicht einmal lesen was ich esse, weil ich kein Kyrillisch kann. Fragen bringt nichts, weil hier kann keiner Deutsch [...] Für die sind wir Deutsche, aber für Deutschland waren wir Ausländer.“

Damit kommt in mir die Verständnislosigkeit und Wut darüber auf, dass der Staat offenbar Unterschiede zwischen uns macht, die wir selbst nie gesehen haben. In welchem Jahrhundert leben wir, wenn auf Grund der Herkunft entschieden wird, wie ein Mensch behandelt wird? Peter Ustinov hat mal gesagt: „Freunde sind die Familie, die wir uns selber aussuchen.“ Und Worte können nicht beschreiben, wie enttäuscht ich von dem Vaterland bin, das seine eigenen Töchter und Söhne verstoßen hat, mir einen Teil meiner Familie genommen hat!

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