Leserbriefe

Das Kicker-Bashing endlich einstellen

Reinmar Wipper, Nürtingen. Zum Artikel „Fotos werden zur Staatsaffäre“ vom 16. Mai. Ich muss gestehen, dass auch ich Ilkay Gündogans Trikot anfänglich als katastrophalen Missgriff gesehen habe. Bis ich seine Widmung für den Wahlkämpfer Erdogan nicht nur handschriftlich, sondern gedruckt lesen konnte: „Sayin Cumhurbaskanim’a, saygilarimla“. Linear übersetzt heißt das „Herrn Staatsvorsitzendem meinem für, Respekte meine mit“. Also „Dem Herrn Präsidenten, hochachtungsvoll“. Mein Türkischlehrer etwa sagte „Herr Reinmar“ (Reinmar Bey) zu mir.

Die türkische Grammatik kennt keine Artikel und hängt Fürwörter, Orts- und Richtungssilben wie nach, mit, in, für hintereinander ans Substantiv an. Cumhur ist der Staat, baskan wörtlich „Häuptling“, im heißt mein und das a drückt den Dativ aus, also wem die Grüße gelten. Und dieses „mein“ ist eine höfliche Verstärkung einer Person gegenüber.

Nun hat man flugs gemeint, Gündogan verwechsle den türkischen Präsidenten Erdogan mit seinem eigenen, nämlich mit Steinmeier. Die Trikot-Inschrift gibt das aber beim besten Willen nicht her. Denn dieses „mein“ ist wie „respektvoll“ genauso unpersönlich (oder unehrlich) wie „sehr geehrter“ oder „hochachtungsvoll“ im Deutschen. Wir sagen „mein Lieber“ und meinen das Gegenteil. „Meine Güte“ ist keine Charaktereigenschaft, und „mein Gott“ ist kein Bekenntnis.

Zu meiner türkischen Freundin Bilge sage ich manchmal Canim (meine Seele) oder Güzelim (meine Schöne). Und zur Freundin Olga von der Wolga manchmal Duschenka moja (mein Seelchen). Das sind allesamt keine Liebesschwüre, sondern Nettigkeiten, und das „mein“ reklamiert keinen Besitz oder Zugehörigkeit, wie man es Ilkay Gündogan angedichtet hat. Seine Botschaft ist ebenso flüchtig, wie die Signatur eines Autors in seinem Buch.

Bleiben wir also auf dem Teppich und lassen das Kicker-Bashing endlich sein, hinter dem sich nur nationaler Mief ausbreitet. Die Kicker ließen sich von Erdogan hinterlistig instrumentalisieren. Das ist dumm genug. Aber sie sind nicht sozusagen von der Fahne gegangen.

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