Leserbriefe

Bei Planungsbeginn alle Belange einbeziehen

Christoph Röcker, Nürtingen. Zum Artikel „Abenteuer Barrierefreiheit“ vom 19. März.

Dass es Barrieren gibt, liegt auch daran, dass in Planungs- und Entscheidungsprozessen bestehende Barrieren nicht beseitigt oder sogar neue Barrieren geschaffen werden, weil die Belange von Menschen mit Behinderung noch immer nicht systematisch erhoben werden.

So wie es vielerorts läuft, ist dies oft nicht rechtens und mit finanziellen Risiken für die Kommunen verbunden. Im Kommunalrecht führen auch Verfahrensfehler regelmäßig zur Rechtswidrigkeit einer kommunalen Maßnahme oder Planung. Logisch. Die Verwaltung ist an Gesetz und Recht gebunden. Sie muss ihre Verfahren so organisieren, dass eine Entwertung materieller Grundrechtspositionen ausgeschlossen ist (Stichwort: Grundrechtsschutz durch Verfahren). Und sie muss dabei wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches seiner Eigenart entsprechend unterschiedlich behandeln (Stichwort: Allgemeiner Gleichheitssatz).

Behinderung ist so eine Ungleichheit, und jede prinzipiell vermeidbare Barriere ist eine potenzielle Verletzung der Grundrechte von Menschen mit Behinderung. Diese haben natürlich nicht mehr Grundrechte als andere, aber natürlich andere Anforderungen an das, was notwendig ist, um ihre Grundrechte zu verwirklichen. Das ist, wie ein Blick auf die Garantien der UN-Behindertenrechtskonvention verrät, eine ganze Menge.

Auch wenn uns die UN meist sehr weit weg erscheint, wirken solche UN-Konventionen bis in die Planungsverfahren auf kommunaler Ebene hinein. Zum einen erlangen sie mit der Ratifizierung durch den Bundestag den Rang eines Bundesgesetzes. Zum anderen wirken sie über die völkerrechtsfreundliche Auslegung des Grundgesetzes in die Auslegung und Anwendung aller sonstigen Gesetze und Verordnungen hinein. Kommunen müssen bei jeder Planung nachweisen können, dass die Belange aller Betroffenen vollständig erhoben und vorschriftsmäßig abgewogen wurden (Stichwort: Abwägungsgebot und -fehlerlehre). Kann dieser Nachweis nicht erbracht werden, können auch bereits beschlossene und umgesetzte Maßnahmen in verwaltungsgerichtlichen Verfahren für rechtswidrig erklärt werden. Das kann für die Kommunen teuer werden, wenn Betroffene einen Anspruch auf Folgenbeseitigung geltend machen.

So steht es, grob zusammengefasst, in einem Rechtsgutachten der Goethe-Universität Frankfurt am Main, das diese für das Deutsche Kinderhilfswerk erstellt hat. Was dort für „Kinderrechte im kommunalen Verwaltungshandeln“ beschrieben ist, gilt grundsätzlich auch für Behindertenrechte, die den gleichen Status haben. Da ist auch in Nürtingen noch Luft nach oben. Ich bin kein Jurist, aber die Belange aller Betroffenen vor Planungsbeginn zu erheben, dürfte nie unverhältnismäßig sein, führt zu besseren Ergebnissen, weniger Barrieren und kommt allen zugute!

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