Weihnachtsgrüße

Sich 936 Kilometer entfernt von daheim zu Hause fühlen

Florian Bahnmüller ist seit September in London als Au-pair. Nachdem er seine Gastfamilie gewechselt hat, geht es ihm richtig gut.

Canary Wharf, die Wolkenkratzer Londons – fotografiert aus Greenwich Park

Am Abend des 8. September 2022 sitzt vermutlich ganz Großbritannien vor dem Fernseher. Draußen auf der Straße blickt man in fassungslose, häufig verweinte Gesichter. Die Nachricht „The Queen has died!“ reißt die Londonerinnen und Londoner aus ihrem sonst so geschäftigen Alltag und versetzt London für etwa zwei Wochen in den Ausnahmezustand.

Dieses Datum wird mir wohl immer in Erinnerung bleiben, denn ich lebe gerade seit einer Woche in der Stadt, die das Zentrum der weltweiten Berichterstattung bildet. Ich bin hautnah dabei, als der neue König Charles III. von Zehntausenden vor dem Buckingham-Palast empfangen wird, sehe die zeitweise zehn Meilen lange Schlange für das „lying-in-state“ (24 Stunden Warten für einen Blick auf den Sarg der Queen) und verfolge das Staatsbegräbnis gemeinsam mit über 100 000 Menschen im Hyde Park.

Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einer französischen Studentin an diesem historischen Tag. Wir beide sind der Meinung: „So etwas wäre in unseren Ländern unvorstellbar.“ Und: „Wer nicht hier war und es vor Ort miterlebt hat, kann es unmöglich verstehen.“

Auch sonst wird es nicht langweilig „auf der Insel“. Premierminister kommen und gehen (schneller als ein Salatkopf verwelken kann), während ich in meinem College buchstäblich Menschen aus der ganzen Welt kennenlerne und mit neu gewonnenen Freunden das spätsommerliche London erkunde.

Mein persönliches Highlight ist dabei eine Fahrt mit dem Schnellboot von Greenwich nach Westminster, bei der man die Skyline in der Abenddämmerung bewundern kann. Vielmehr macht mich jeder Spaziergang glücklich – am liebsten entlang der Themse und manchmal auch einfach nur durch einen der wunderschönen Parks. Ich bin begeistert von kostenlosen Museen und Gallerien und sehe so viel Kunst wie noch nie zuvor.

An Weihnachtsbeleuchtung wie hier in der Regent Street wird in London nicht gespart.

Und ich erweitere meinen kulinarischen Horizont über die schwäbische Küche und Alaturka (den ich nichtsdestoweniger vermisse) hinaus auf unzählige internationale Spezialitäten. Das Beste von alledem ist das Gefühl, das mich immer begleitet: „Ich kann hier so oft zurückkommen, wie ich will.“ Als die Tage kühler werden, muss ich eine schwierige Entscheidung treffen. Die letzten zwei Monate habe ich als Au-pair für eine britisch-französische Familie gearbeitet. Ich lerne unglaublich viel dort, aber ich fühle mich zunehmend im Stich gelassen, da ich mit Aufgaben betraut werde, für die ich eine professionelle Ausbildung bräuchte und ich werde immer niedergeschlagener. Ich erzähle das so offen, weil ich weiß, dass es nicht nur mir so geht, aber viel zu wenig darüber gesprochen wird. Viele Au-pairs haben Glück mit ihrer Familie, aber einige eben nicht. Und wenn es einem wirklich schlecht mit etwas geht, ist es auch keine Schande, sein Umfeld zu verändern, bis man sich wieder wohlfühlt. Das gilt für Studium, Arbeit und Beziehung gleichermaßen. Jeder hat das Recht, glücklich zu sein. Das habe ich in diesem Jahr gelernt. In meinem Fall geht alles bestmöglich aus. Über eine Bekanntschaft lerne ich eine wundervolle Familie kennen, die mich von Tag eins an mit offenen Armen empfängt und mir zum ersten Mal das Gefühl vermittelt, dass man sich auch 936 Kilometer von zu Hause entfernt zu Hause fühlen kann.

Ziemlich schnell nach meinem Umzug Mitte November beginnt in London auch schon die Weihnachtssaison. In den berühmten Einkaufsstraßen Oxford und Regent Street werden feierlich überdimensionale Lichterketten angeschaltet und auf jedem freien Platz werden „deutsche“ Weihnachtsmärkte aufgebaut. Schmunzelnd höre ich eine deutsche Touristin sagen: „Das ist alles, aber kein Weihnachtsmarkt!“

Pünktlich zum ersten Advent dekorieren meine Familie und ich schon den Weihnachtsbaum. Jenseits von allem Trubel auf den Straßen genießen wir es, stundenlang auf dem Wohnzimmerboden zu puzzeln. Die neu eingezogene Besinnlichkeit hindert mich und mein Gastkind aber nicht daran, das Wohnzimmer in einen Badminton-Court zu verwandeln. Wie viele Briten schaut sich auch meine Familie in der Vorweihnachtszeit mindest ein „Pantomime“ an, ein lustiges Theaterstück, bei dem das Publikum durch Zurufe mit der Bühne interagiert. Außerdem habe ich das Glück, in einer musikalischen Familie gelandet zu sein. Bei einem Besuch der Großeltern finden wir uns spontan am Klavier zusammen und singen deutsche Weihnachtslieder – vierstimmig!

Gegen Ende des Jahres mache ich noch eine besondere Begegnung. Ich treffe eine Mutter, die in der Nürtinger Partnerstadt „Pontypridd“ (Rhondda Cynon Taf, Wales) aufgewachsen ist und 1983 bis 1985 einen Schüleraustausch mit Nürtingen gemacht hat. Ihr Name ist Lynfa Jenkin (falls eine Susannah Holder oder Gudrun Klenk das hier liest, darf sie gerne Kontakt mit der Redaktion aufnehmen) und sie hat von Nürtingen in den höchsten Tönen geschwärmt. „It’s a small world, isn’t it?“, dachten wir uns beide.

Florian Bahnmüller mit seinem Gastkind vor dem Weihnachtsbaum, der in Großbritannien bereits zum ersten Advent dekoriert wird.

Nun wünsche ich allen Nürtingerinnen und Nürtingern wundervolle, gesegnete Feiertage! Ich selbst freue mich schon sehr auf das Wiedersehen mit meiner Familie und darauf, mein Heimatstädtchen, von dem sogar in Südwales geschwärmt wird, bald mit neuen Augen zu erkunden.

Merry Christmas! Nadolig Llawen (mein Gastvater ist nämlich Waliser)!

 

Florian Bahnmüller

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