Leserbriefe

Türken-Demokratie durch die Hintertür?

Helmut Weber, Aichtal-Neuenhaus. Zum Artikel „Chaos in der Türkei: Militär versucht Putsch“ vom 16. Juli. Ob eine Partei den Putsch an der Demokratie vollzieht oder eine Armee – wo ist der Unterschied zum Verlust? Sicher nur in der Vollzugszeit. Dass die Demokratien dieser Welt aus Selbstschutzbemühung den türkischen Versuch der Machtübernahme durch Soldaten nicht gutheißen können – auch aus mancher Erfahrung mit Militärs beziehungsweise grundsätzlich –, ist nachvollziehbar. Immerhin wäre aber im Türkei-Fall eine Hoffnung geboren, dass die „ideellen Islamisten“, die religiösen Hardliner im Staat, die ihn in ein anderes Jahrhundert schicken wollen, ihren Extremismus nicht mehr öffentlich, verhetzend und gebietend leben können. Laizismus – die radikale Trennung von Kirche und Staat, wie schon einmal befreiend durch Atatürk verordnet, wäre für jedes Land, in dem eine Staatsreligion, Religion schlechthin Offenheit, Toleranz und Fortschritt bindet, ein Segen. Das türkische Militär, dem eine solche Denkweise aus verschiedenen, auch durchaus eigennützigen Gründen, auch aus gehabter Erfahrung unterstellt werden kann, wäre vielleicht ein Hoffnungsträger mit mittelfristiger Demokratieaussicht.

Dass Erdogan seine orthodoxen Untertanen als persönliches Schutzschild gegen Soldaten auf die Straßen schickte und damit ein Massaker provozierte, das den Angriff auf das Volk inszenieren soll, hat die zynische Denkweise eines Assad. Sich-selbst-Diener Erdogan, der nebenbei ungeschoren Volksmord an unbequemen Kurden betreibt, vormals den IS unterstützte, weil dieser die radikale Führungsrolle des Islam in Szene setzt, ist ein gefährlicher, ein unberechenbarer Staatschef, mit Tendenz zu 1933.

Mit dieser Türkei und fanatischen Deutsch-Türken in dritter Generation, die noch immer keine Demokraten sind, die Demokratie und Wohlstand genießen, ohne einen existenziellen Mittelpunkt zu suchen beziehungsweise finden zu wollen und deshalb aus einer unrealistisch engen ethnischen, auch fremden Heimatverbundenheit, purer Dummheit oder religiösen Vorstellungen einer nicht europäischen Welt nachspüren, werden wir uns noch länger auseinandersetzen müssen. Bitte im Circus Maximus der Worte oder bei friedlicher Distanzierung, wenn sie es zulassen und klarer Absage, wenn unsere Grundwerte im Alltag nicht umgesetzt werden. Wer Europa favorisiert, dort seine Zeit lebt, hat für dieses Europa eine Verpflichtung – nicht eventuell und das unaufgefordert! Nicht weil es Europa ist, sondern weil hier der ernsthafte Versuch für eine ganze Menschheit stattfindet, die höchsten Werte zu leben, die Menschen sich bislang vorgeschrieben haben. Auch wenn das immer wieder misslingen muss, weil der Mensch ist wie er ist.

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