Leserbriefe

Erinnerungen an eine schwere Zeit

Bruno Necker, Neckartenzlingen. Die Bilder in den Medien von den vielen Menschen, die derzeit aus ihrer Heimat flüchten müssen, erinnern mich an meine eigene Flucht. Am 18. Mai 1940 wurde ich in Ketrossy (Chetrosou) in Bessarabien (Moldowa) geboren. Drei Monate später wurden 90 000 Bessarabien-Deutsche umgesiedelt – Endziel war Polen. Mein Geburtsort Ketrossy wurde 1912 von meinem Großvater mit 252 Einwohnern gegründet. Beim Verlassen des Dorfes wurde Abschied von den Gräbern genommen, die Kühe losgebunden, die Hühner freigelassen. Das Dorf wurde also innerhalb weniger Stunden komplett von allen Menschen verlassen. Erstes Ziel war die Stadt Galaz (Galati), dort blieben 10 000 Wagen und 20 000 Pferde stehen. Die Weiterreise erfolgte per Schiff über Jugoslawien nach Österreich über die Donau. In Gmunden wurden wir im Dezember 1940 eingedeutscht. Der Aufenthalt hier war circa ein halbes Jahr. Die Weiterreise nach Polen (Lód´z–Bromberg) erfolgte per Bahn.

Im Januar 1945 war mein Vater bereits zum Volkssturm eingezogen worden. Da begann die Flucht Richtung Westen. Ich war viereinhalb Jahre und meine Schwester drei Jahre alt. Meine Mutter war 35 Jahre alt, es war Winter, wir hatten kein Dach auf dem Fuhrwerk. Wochen später, welch ein Zufall, stand mein Vater am Weg, wo all diese Flüchtlingstrecks Richtung Westen vorbeifuhren. An dem Tag, Kriegsende, waren wir in einem Waldstück in Verluesmoor bei Bremen gelandet. Ein halbes Jahr später – mit drei Pferden und zerlegtem Wagen – im Zug in Viehwaggons in Richtung Urheimat. Erst Ludwigsburg, dann Nürtingen und an einem schönen Maientag sind wir in Neckartenzlingen 1946 gelandet. Die Flüchtlinge wurden in verschiedenen Häusern eingewiesen. Zu essen gab’s fast gar nichts. Meine Mutter ist vor Hunger zweimal umgefallen. Es gab gute Menschen, ältere Omas brachten manchmal im Schurz drei Eier – welcher Reichtum.

Jetzt 2014 – nach 74 Jahren – habe ich zum ersten Mal Ketrossy besucht. Mein Geburtshaus steht noch da, aber in jämmerlichem Zustand. Die Bewohner des Ortes sind bettelarm. Ich werde im Herbst dieses Jahres den Ort noch einmal besuchen. Ich will verschiedene ganz arme Familien mit je einem Zentner Kartoffeln, 20 Euro für Holzkauf und Suppe unterstützen. Ich will etwas von dem zurückgeben, das uns viele Menschen in der schweren Zeit gegeben haben.

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